50 Jahre Frauenstimmrecht: Szenen eines ewigen Kampfes

Die Tössemer Frauen und ihr Kampf für Gleichstellung

Am 7. Februar 1971 wurde in der Schweiz das Stimm- und Wahlrecht für Frauen beschlossen. Der Kampf um die Gleichstellung dauert jedoch lange, und er dauert an. Auch in Töss. Matthias Erzinger schaut zurück auf Szenen und Frauen, die ihn prägten.

August 1914: In Europa ist ein Krieg ausgebrochen, der sich zum Weltkrieg auswachsen wird. In der damals noch selbständigen Gemeinde Töss haben die Sozialdemokraten das Sagen. Im Restaurant Löwen trifft sich der Vorstand der Sozialdemokratischen Partei. Mit dabei ausserordentlicherweise: Emma Dünki und zwei weitere Frauen. Sie haben sich unter den Arbeiterfrauen abgesprochen und erheben Forderungen:

  • Die Schaffung einer Volksküche.
  •  Die Erweiterung der Speisung von Schülern.
  • Eine aktive Lebensmittelpolitik als Gegenaktion zur Preiswucherei.
  • Die Errichtung einer besonderen Fürsorgestelle für die Familien einberufener Wehrmänner und Notleidener überhaupt.
  • Die Erweiterung der bürgerlichen Armenpflege.
  • Die Ausdehnung des Rechtsstillstandes auf die Ausweisung aus Wohnungen für die Familien der Wehrmänner.
  • -Ein Asylrecht der Gemeinde für Ausländer

Der Vorstand erklärt sich einverstanden und macht eine Eingabe an den Gemeinderat. Und der setzt diese Forderungen auch um. Die Frauen nehmen indirekt Einfluss auf die Politik. Aber es reicht zumindest einem Teil nicht mehr. Sie wollen mehr. Und so organisieren sie sich. Am 11. Mai 1915 ist es soweit. 36 Frauen treffen sich im Schulhaus Eichliacker zur Gründung einer sozialdemokratischen Frauengruppe. Ebenfalls anwesend ist der gesamte Vorstand der Sozialdemokratischen Partei Töss, mit Redaktor Ernst Marti an der Spitze, der die Versammlung auch leitet. Einer der Initianten ist Pfarrer Albert Reichen, der auch später immer wieder die Frauen belehrt. Jetzt hält er «eine formschöne und inhaltsreiche Rede», in der er «ein deutliches Bild von der Notwendigkeit der Zusammengliederung der heutigen Frauen» zeichnet. Es sind unterschiedliche Strömungen wahrnehmbar. Während für einen Teil der Frauen die Gleichberechtigung und eine Anteilnahme am politischen Leben im Vordergrund steht, streben die anderen an, dass die Frauen sich vermehrt der Erziehung der Kinder und dem Haushalt widmen können statt in der Fabrik zu arbeiten. So beklagt sich etwa Reichen, dass die Frauen in Töss ihre Kinder nicht stillen könnten, sondern künstlich ernähren müssten, weil sie in der Fabrik arbeiteten. Nicht untypisch ist, dass der erste Präsident der neuen Frauengruppe ein Mann ist und Mitglied des Vorstands der «Männerpartei». Und so sind auch die kommenden Anlässe gemischt: auf der einen Seite Vorträge zur Hygiene im Haushalt, zur Erziehung oder Weihnachtsdekorationen, auf der anderen Seite Referate von politischen Agitatorinnen: Rosa Bloch, Clara Zetkin, die sich für mehr politische Rechte stark machen.

Am 10. Dezember 1916 kommt Ernst Jud freudig nach Hause. Er war im Wahlbüro Stimmenzähler. «Jetzt haben wir’s endlich geschafft: jetzt haben wir endlich ein gerechtes Wahlsystem», berichtet er seiner Frau. Soeben haben die Stimmberechtigten im Kanton Zürich ein jahrzehntelanges Anliegen der Arbeiterbewegung angenommen: das Proporzwahlrecht. «Das mag für euch Männer stimmen, wir Frauen sind nach wie vor ausgeschlossen», dämpft Anna Jud seine Euphorie.

Initiative für Frauenstimmrecht

Trotzdem: der Erfolg beim Proporzwahlrecht verleiht auch den Tössemer Frauen mehr Schub. Knapp zwei Jahre nach der Gründung, am 29. März 1917 starten sie ihre erste grössere politische Initiative: Sie verabschieden Anträge zuhanden der Parteisektion mit folgendem Wortlaut:

  • Die sozialdemokratische Partei Töss verlangt von der kantonalen Geschäftsleitung sowie von der sozialdemokratischen Kantonsratsfraktion, der Frauenstimm- und Wahlrechtsfrage ihre Aufmerksamkeit zu schenken.
  • Es soll von der Zürcher Regierung eine Gesetzesvorlage erlassen werden, welche die in der kantonalen Verfassung garantierte Wählbarkeit der Frauen näher umschreibt.
  • Die Initiative betreffend Frauenstimmrecht soll von der kantonalen Parteileitung noch dieses Jahr in die Wege geleitet und durchgeführt werden.

Der Initiative der Frauen ist nur mässiger Erfolg beschieden. Immerhin beschliesst die SP-Kantonsratsfraktion eine entsprechende Motion. Dieser ist aber kein Erfolg beschieden. Auch ein grosser Teil der SP-Kantonsräte wendet sich gegen das Frauenstimmrecht.

Auf schweizerischer Ebene sieht es jedoch für die Frauen noch schlechter aus. Die Basler SP wendet sich gegen das Frauenstimmrecht. Und der «Arbeiterinnenbund», die Dachorganisation der Frauengruppen, wird noch 1917 aufgelöst und in die SPS eingegliedert. In Töss jedoch wächst die Mitgliederzahl konstant, während anderswo die Frauengruppen serbeln. An der Generalversammlung vom 14. März 1918 schliesslich treten alle Männer aus dem Vorstand zurück, und es wird ein Frauenvorstand gewählt.

Anna Jenni: die Hutmacherin und Malerin

In den zwanziger Jahren ist Anna Jenni, die Fabrikler-Tochter aus Töss, als Hutmacherin in einer kleinen Fabrik an der Marktgasse angestellt. «Sechs Arbeiterinnen waren wir, und ebensoviele Lehrtöchter.» Gearbeitet wird in einem engen Raum, der ihrer Meinung nach nicht den gesetzlichen Mindestanforderungen entspricht. Aber das Verhältnis zum Patron ist eigentlich gut. Wenn nur nicht die ewige Überzeit wäre. Zuhause muss sie ihrem Vater immer wieder erklären, wieso sie eine halbe Stunde, manchmal auch eine Stunde zu spät nach Hause kommt. Denn dieser vermutet, dass eher ihr «Schatz» der Grund sei. Wie sie ihm den wahren Grund erklärt, meint er, der in der Fabrik immer klar seine Meinung sagt und wohl daher nicht zum Meister befördert wurde, dass sie sich halt wehren müsse.

Und tatsächlich: Anna spricht mit den anderen Arbeiterinnen – «die Lehrtöchter haben wir extra da draus gehalten» – und die Frauen beschliessen, ein Ultimatum zu stellen. Die zierliche Anna geht zum Patron, fordert die Auszahlung der Überstunden mindestens einen Monat rückwirkend und zukünftig Entschädigungen für Überzeit von mehr als einer halben Stunde. Andernfalls würden sie am übernächsten Tag nicht mehr zur Arbeit antreten. Der Patron ist perplex, verspricht aber eine Antwort bis am Abend – und lässt Anna tatsächlich kurz darauf wieder rufen. Er erklärt schriftlich sein Einverständnis mit den Forderungen der Arbeiterinnen. Erst jetzt wird der jungen Frau bewusst, dass er ja auch völlig anders hätte reagieren können.

Anna Jenni und Lilly Schiegg: Kampf um Gleichstellung hinter den Kulissen. (Bilder: me/Archivbild De Tössemer)

Lilly Schiegg: die Arbeit hinter den Kulissen

Nach dem 2. Weltkrieg ist das Frauenstimmrecht noch immer nicht Realität. Immer wieder verteilen die Frauen der Frauengruppe Töss Flugblätter für die Gleichstellung der Frauen. Daneben haben sie aber auch einen neuen Weg zur politischen Einflussnahme gefunden: «Wichtig waren für uns vor allem die Kommissionen, in die wir Delegationen entsenden konnten», erläutert Lilly Schiegg-Meyer 1990 in einer Publikation zur Geschichte der Arbeiterbewegung in Töss. «Durch sie konnten wir Frauen in der Politik mitreden, konnten mitbestimmen und unsere Interessen vertreten». Lilly Schiegg ist die Frau des damaligen Arbeitersekretärs und späteren Stadtrates Franz Schiegg. Während er in der Öffentlichkeit auftritt, bleibt sie lieber im Hintergrund. Sie ist Mitglied im städtischen Parteivorstand, während andere Frauen in den Gremien der SP auf allen Ebenen bis hin zum nationalen Parteivorstand tätig sind, aber auch im Genossenschaftsrat des COOP, vergleichbar mit dem heutigen Verwaltungsrat des Detailhändlers. Auf politischer Ebene sind die Frauen in der Kreisschulpflege, der Armenpflege, der Kindergartenkommission, der Nähschul-, Hort-, Schwimmbad-, Milch- und Mütterspendenkommission und vielen anderen vertreten. Ab 1966 kommen die Kirchenpflegen dazu, wenig später noch die Bezirksschulpflegen.

Lilly Schiegg kämpft aber auch innerhalb der Arbeiterbewegung: 1958 wird nicht zuletzt auf ihre Initiative hin am 1. Mai in Winterthur erstmals einer Frau für zehn Minuten das Wort erteilt. Auch wollen die Frauen nicht mehr am Schluss des Umzuges marschieren – oder dann wollen sie, dass vor den Frauen auch eine Musik marschiert. Sie veranstaltet Bildungskurse, organisiert Referate, aber auch immer wieder die humanitären Aktivitäten der SP-Frauen.

Am 7. Februar 19971 treffen sich die SP-Frauen mit der Männerpartei im Restaurant «Löwen». Der Nachrichtensprecher von Radio Beromünster verkündet: «In der 224. Eidgenössischen Volksabstimmung haben Volk und Stände der Einführung eines Frauenstimm- und wahlrechts zugestimmt».

Die inzwischen pensionierte Anna Jenni malt ein Bild: Eine ältere Frau schaut von unten am Berg den jüngeren zu, wie sie dem Gipfel, der Gleichberechtigung, zustreben. Bis zum Gipfelkreuz schafft es allerdings nur die ganz junge Frau. Das Gipfelkreuz ist mit Dornen umschlungen. «Ich will damit sagen, dass auch mit dem Frauenstimmrecht die Gleichstellung noch lange nicht erreicht ist.» Anna Jennis Vorahnung hat sich bis heute bestätigt.

Matthias Erzinger

Der Artikel basiert auf Interviews, die 1989 u.a. mit Lilli Schiegg und Anna Jenni geführt wurden sowie den Protokollbüchern der Frauengruppe der SP Töss.