Am 1. Oktober 1970 eröffnete mit dem Zentrum Töss das erste moderne Einkaufszentrum in der Region Winterthur. Das öffentliche Interesse war gigantisch: «Die «Eingeweide» des imponierenden Baues wurde am Eröffnungstage in einem Aufmarsch von Schau- und Kauflustigen regelrecht gestürmt», berichtete der «Dorfchronist» Walter Bretscher in der damaligen Novemberausgabe des «Tössemer». Die Geschäfte lockten nicht nur mit attraktiven Rabatten und klimatisierten Ladenräumen, sondern auch die Swissair liess sich nicht zweimal bitten und verwöhnte 64 Glückspilze mit noblen Alpenflügen – es herrschte Stadtfeststimmung.
Wenig ist vom Glanz der 1970er-Jahre übriggeblieben. Der kolossale Betonbau mit seinem schwanenhalsartigen Turm ist für viele Betrachterinnen und Betrachter zum hässlichen Entlein verkommen. Im Rahmen einer Leserumfrage der Gratiszeitung «20 Minuten» im Jahr 2018 belegte das Zentrum in der nationalen Hitparade der architektonischen Grässlichkeiten gar den unrühmlichen sechsten Platz.
Dabei wurde mit dem Zentrum Töss Quartiergeschichte geschrieben! Die Eröffnung markiert den Schlussstein einer langen Ära der baulichen Grossprojekte in der einstigen Winzergemeinde: Gegen Ende der 1960er-Jahre streifte Töss seinen dörflichen Charakter endgültig ab und wurde stattdessen in die urban geprägte Moderne katapultiert.
Ein Produkt des Booms der 1960er Jahre
Der Bau des Zentrums war symptomatisch für eine Zeit, die als beschleunigt wahrgenommen wurde. Im Zuge der Nachkriegseuphorie herrschte nicht nur ein ungebremster Bauboom sowie eine bisher ungekannte Konsumlust, sondern auch eine neue Form der Mobilität, die durch die Massenmotorisierung befördert wurde. Töss bekam diese Veränderungen besonders stark zu spüren: Bereits 1955 war die Zürcherstrasse zur meist befahrenen Nationalstrasse der Schweiz geworden. Für Kinder und ältere Menschen entwickelte sich ihre Überquerung zum beängstigenden Nervenkitzel und die gegenüberliegende Seite des Dorfes war kaum mehr sicher zu erreichen. Durch verdichtetes Bauen wurde es im Quartier enger, grauer und anonymer. Als 1959 auch noch das stolze Hotel Krone versteigert und umfunktioniert wurde, ging der einzige grosse Saal und damit das kulturelle Herz von Töss für immer verloren – wo es früher Kaninchenausstellungen, ausschweifende Bankette und Theateraufführungen zu bestaunen gab, wurden nun Möbel verkauft.
Der Bau der Autobahn A1 sowie verschiedene Projekte zur Unter- und Überführung der Zürcherstrasse sollten die dringend benötigte Entlastung für die Fussgänger bringen. Diese Projekte vertilgten jedoch eine grosse Menge der bestehenden Bausubstanz: Ganze Häuserzeilen mussten abgerissen werden und das Hotel Krone samt legendärem Kronensaal sprengte man 1965 im Rahmen einer Luftschutzübung kurzerhand weg, da es der Autobahn im Weg stand. Damit wurden auch die hartnäckigsten Revitalisierungsbegehren des einstigen Kulturzentrums zum Schweigen gebracht.
Die wilde Siedlungsentwicklung bereitete selbst der Stadt allmählich Sorgen: Auf Anregung von Stadtbaumeister Rüegger unternahmen neun Architekten deshalb 1961 eine ausführliche Begehung des Quartiers. Ihr Fazit war eindeutig: Wenn die unkontrollierte Bautätigkeit nicht bald in ein Gesamtkonzept überführt würde, drohe die Verslumung. Ausserdem fehle im stark wachsenden Wohn- und Industriequartier ein Zentrum und Möglichkeiten zur Zerstreuung. Zwischen 1961 und 1963 entstand auf dem Reissbrett die Vision von «Neu Töss» respektive «Töss City» das dereinst über 10’000 Einwohnerinnen und Einwohner beherbergen und dessen Zentrum gleichermassen ein Konsum-, Dienstleistungs- und Musetempel mit grossem Saal werden sollte.
Ein Gemeinschaftswerk von Rieter, der Winterthur-Versicherungen und der Stadt
Für die Realisierung des Zentrums bildete sich ein Konsortium bestehend aus der Stadt Winterthur, der Rieter AG und der Winterthurer Versicherung. Mit der Umsetzung wurde das Winterthurer Architekturbüro Klaiber, Zehnder und Affeltranger betraut. 1968 begannen die Aushubarbeiten. Während der zweijährigen Bauzeit schnellte der moderne Wohnturm im Wochentakt in die Höhe und zog Schaulustige von nah und fern an – vorfabrizierte Fertigelemente machten dieses bauchtechnische Wunder möglich. Bereits am 8. November 1969 war der Rohbau abgeschlossen. Bauarbeiter platzierten darauf eine acht Meter hohe Tanne, die fortan stolz über den Dächern von Töss thronte und keine Zweifel am architektonischen Übergang des einstigen Dorfes zum Stadtteil zuliess. Keck schob sich der weissgraue Turm mit seinen leuchtenden blauen Sonnenstoren vor das Sulzer-Hochhaus und prägt seither das Landschaftsbild für all jene, die über die Zürcherstrasse nach Winterthur reisen – und das sind bekanntlich nach wie vor viele.
Gleichzeitig zog das Einkaufszentrum einen Schlussstrich unter die bisher übliche Form der Kleingeschäfte, welche die Zürcherstrasse gesäumt hatten. Alle wichtigen Dienstleister fanden sich nun an einem Ort konzentriert: Post, Bank, Hotel, Migros-Filiale samt Restaurant, verschiedene Fachgeschäfte und die erste Kreisbibliothek. Der Bau trug besonders dem Siegeszug des Automobils – das angeblich liebste Hobby der Tössemer – Rechnung und wartete nach amerikanischem Vorbild mit einer eigenen Parkrampe auf. Was für ein Spektakel! Töss verströmte das Odeur der weiten Welt.
Das Zentrum ist allerdings nicht das einzige prägende Bauprojekt der ausgehenden 1960er-Jahre: Gleichzeitig entstanden neben Schul-, Strassen- und Wohnbauten das reformierte Kirchgemeindehaus und das seit langem geforderte Schwimmbad. Die architektonische Verwandtschaft der drei ausgewiesenen Bauten ist augenscheinlich – sie alle sind mehr oder weniger ausgeprägte Repräsentanten des sogenannten Brutalismus: Charakteristisches Merkmal dieses beliebten Baustiles der Nachkriegszeit ist die grosszügige Verwendung von Sichtbeton.
Doch keines der genannten Gebäude vermochte derart zu polarisieren wie das Betonmonster an der Zürcherstrasse. Dies liegt nicht nur an seiner markanten Architektur, die nach wie vor auf wenig Gegenliebe stösst, sondern nicht minder an der unglücklichen Geschichte ihrer Eigentümerschaft: 1988 wurde das bereits als Problemfall bezeichnete Zentrum an die Erb-Gruppe verkauft, die das Gebäude für 20 Millionen Franken sanieren, erweitern und zum neuen Firmenhauptsitz umnutzen wollte. Das Vorhaben scheiterte allerdings am Widerstand der Stadt und der unumstösslichen Bedingung, dass der Saal weiterhin für die Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt werden musste. Das Traumobjekt wurde daraufhin zur ungeliebten Immobilie.
Ohnehin brachte der Betonbau weder der Swissair noch der Erb-Gruppe Glück: 2001 war bekanntlich endgültig Schluss mit extravaganten Alpenflügen und 2003 implodierte das Erb-Imperium. Es handelte sich um die beiden grössten Firmenpleiten in der Geschichte der Schweiz. Das Zentrum geriet daraufhin in die Erb’sche Konkursmasse und verpuppte sich während des langjährigen Verfahrens in einer eigenartigen Kapsel des Stillstands – ausgerechnet jener Bau, der einst für die schwindelerregende Geschwindigkeit der Moderne stand! Endlich ist die Blockade um das Zentrum gelöst und seither wird auch wieder in das altehrwürdige Gemäuer investiert. Sukzessive finden Renovationsarbeiten statt und auch die Migros hat ihre Filiale vor einiger Zeit schon ordentlich aufgehübscht. Das Zentrum lebt.
Es ist da und es bleibt da. Es prägt seit einem halben Jahrhundert das Antlitz von Töss. Man kann es lieben, man kann es hassen, man kann es schön, herzig oder hässlich finden und man kann heftig darüber streiten – aber übersehen kann man es nicht. Nur wenigen Gebäuden ist es vergönnt, ein ganzes Quartier und die Stadt über eine so lange Zeit derart auf Trab zu halten. Bei der Debatte geht es längst nicht mehr nur um bröckelnden Beton. Es geht um die grundlegenden Herausforderungen des Zusammenlebens, um die verschiedenen stadtplanerischen Bedürfnisse sowie nicht zuletzt um die Suche nach einer eigenen Identität als aufstrebendes und sich stark veränderndes Stadtquartier. Dies sind alles Fragen, die sich 50 Jahre nach Abschluss des Grossprojekts «Töss City» angesichts neuer Megaprojekte wie dem Ausbau der Autobahn A1, dem «Brüttemer Tunnel» und der «Überwerfung Töss» abermals aufdrängen.
Heute steht bereits fest, dass unser Töss in 50 Jahren wieder ganz anders aussehen wird. Wie werden künftige Generationen dereinst über unsere stadtplanerischen «Leuchttürme» urteilen? Dem Zentrum gilt es einen versöhnlichen Jubiläumsgruss auszurichten, denn es hat mitunter dazu beigetragen, dass die Tössemerinnen und Tössemer für die kommenden grossen Debatten gerüstet sind und schon viel Übung darin haben, sich bei der Stadt Gehör zu verschaffen.
Deshalb: Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, du liebenswürdiges, eigenwilliges und aufreibendes brutalistisches Juwel! Du bist mit deinem herben und bodenständigen, ehrlichen Charakter ein wahres Stück Töss geworden.
Nadia Pettannice*
Nadia Pettanice ist Historikerin und Mitglied der Tössemer-Redaktion