Buchstabieren und Lesen für Körner, Hafer und Wein
Zürcher Schulumfrage von 1771 in Töss – Teil 2
Buchstabieren und Lesen für Körner, Hafer und Wein
Die Kinder in Töss wurden aus heutiger Sicht an einem eher ungewöhnlichen Ort unterrichtet. 1771 stand im damaligen Rebdorf noch kein richtiges Schulhaus. Schulmeister Bretscher musste nebenher noch einer anderen Arbeit nachgehen, dafür konnte er auf familiäre Unterstützung zählen.
«Wo ist der Orth, da alle kinder gleich gerne in die Schuhl gehen?», vielleicht war Pfarrer Ringgli genervt über diese Frage. Denn er kannte seinen Schulmeister in Töss, Jakob Bretscher und auch die bis zu 100 Schulkinder ziemlich gut, zumindest gemäss seinen eigenen Angaben. Auch gut möglich, dass Schulmeister und Pfarrer damals, 1771, ein eingeschworenes Duo waren. Denn Pfarrer Ludwig Ringgli erwähnt in einer Antwort dass der Schulmeister die «Erinnerungen des Pfarrers mit Liebe» annimmt. Schließlich mussten sie mit wenig Mitteln zurecht kommen. Zum Zeitpunkt, als die Pfarrer der Zürcher Gemeinden an der grossen Schulumfrage teilnahmen und über Schule, Schulkinder und den Schulmeister Fragen beantworteten, gab es in Töss noch kein Schulhaus. Erschwerend kam hinzu, dass zu dieser Zeit gerade eine Hungersnot herrschte, was Investitionen in Projekte wie ein Schulhaus sicherlich zusätzlich hinderte.
Schule ohne Schulhaus, wie geht das? Ganz einfach, Jakob Bretscher unterrichtet die Kinder aus Töss bei sich zu Hause. Im Winter mal mehr, im Sommer mal weniger Kinder, die also im Hause Bretscher täglich ein- und ausgingen. Das ist zu dieser Zeit kein Einzelfall. Viele Zürcher Gemeinden kennen diese Praxis. Es wird auch erwähnt, dass Bretscher beim Schulunterricht von seiner Frau unterstützt wird – heutige Pädagog:innen werdens verstehen, die Klassenassistenzen sind aus vielen Klassenzimmern kaum noch wegzudenken. Und gut möglich, dass neben den lernenden Kindern auch noch Heimarbeiten verrichtet wurden, also weitere Bewohnende des Hauses (Mieter:innen von einzelnen Zimmern) oder Nachbar:innen mit ihren Spinnrädern auch noch während der Schulzeit irgendwo im Haus untergebracht waren, vielleicht sogar im selben Raum. Im Schulreformdiskurs sei gerade das ein grosses Thema gewesen, meint Andreas De Vincenti, Forscherin am Zentrum für Schulgeschichte der PH Zürich: «Einerseits wollte man Schulhäuser, in denen ausschließlich Schule gehalten werden kann, damit die Kinder nicht gestört werden beim Lernen. Gleichzeitig würden so aber auch die Hilfestellungen durch Familienmitglieder oder andere Personen, die im Haus wohnten und den Schulmeister häufig beim Unterrichten unterstützten, wegfallen.» Es sei auch gut vorstellbar, dass in Töss mit zeitweise 100 Schulkindern nicht alle zur gleichen Zeit im selben Raum gewesen sind, sondern immer wieder andere Kinder anwesend waren. Erst mit der Verbreitung von Schulhäusern merkte man dann genau, dass die Helfer:innen aus dem vorherigen «Homeschooling» fehlten. «Es kamen Ideen auf, die in Richtung Unterricht im Klassenverband wiesen: dass man also die grossen Klassen teilen und jedem Kind dasselbe Buch aushändigen könnte, damit alle gemeinsam an denselben Inhalten arbeiten könnten. Das wurde zuvor meist nicht so gemacht und war etwa aufgrund fehlender Schulbücher auch gar nicht möglich», meint PHZH-Bildungsforscherin De Vincenti.
Zuerst buchstabieren, dann lesen
«Läßt die kinder nicht lesen, bis sie recht buchstabieren können», gibt der Pfarrer zur Antwort, als man ihn zum Schulunterricht in Töss befragt. Buchstabieren und vorlesen ist der Hauptbestandteil des Unterrichts. Meist, so sagt es der Pfarrer, werde das Lesen nach ein bis zwei Jahren Teil des Unterrichts. Textlich geht es mehrheitlich sehr fromm zu und her. Das ist nicht sehr überraschend. Denn der Schulzweck, von der Kirche beaufsichtigt, war damals voll und ganz auf das Seelenheil und das sittliche Leben ausgerichtet. Erst später, in den 1830er Jahren, veränderte sich der Schulzweck auf das wirtschaftliche und politische Leben als Staatsbürger:in. Auf die Frage hin, was sie den lesen würden, meint der Pfarrer: «Lehrnen außwendig die theils kleineren, theils erbaulichen psalmen, morgen und abend gebet, um verzeihung der sünden etc.» Lesen war so nur sehr schwer zu unterscheiden vom Auswendiglernen. Spannend ist, dass diese sehr alte Umfrage auch ein Thema beinhaltet, das auch im Jahr 2025 noch nicht gelöst ist bzw. immer noch diskutiert wird: Die individuelle Förderung. «Wie geht es bey diesem Auswendiglernen zu? Giebt man den Kindern ungleiche Lectionen, nach ihren ungleichen Fähigkeiten auf?» Aus der Bewegung der Reformfreudigen kamen auch Argumente, ob denn die Effizienz des Schulmeisters wirklich über allem stehen müsse: «Das alleinige zeitökonomische Argument hielten viele Pfarrer für falsch. Gegen die damals aufkommenden Forderungen, die Kinder im Klassenverband zu unterrichten, wurde argumentiert, dass weiterhin jedes Kind nach seinen Möglichkeiten unterrichtet werden und stärkere Schüler:innen schwächere auch unterstützen können sollten. Im Klassenunterricht, so das Argument der kritisch eingestellten Pfarrer, würden viele entweder unter- oder überfodert.» sagt Expertin Andrea De Vincenti. Im Vergleich zum Schreiben und Lesen war Rechnen noch weniger verbreitet. «Die rechenkunst lehrnet bisweilen ein knab nebst volkomnerem schreiben», meint Pfarrer Ringgli im Fragebogen.
Zwischen Feldarbeit und Klassenzimmer
Schulmeister sein war sehr häufig Familientradition. Jakob Bretscher hatte das Amt damals 1771 erst seit kurzem. Bereits sein Grossvater Mathias und sein Vater Abraham Bretscher waren Schulmeister in Töss. Eine PH oder ein Lehrersemi gab es damals noch nicht. Als angehender Schulmeister ging man quasi in die Lehre zum eigenen Vater. Vermutlich nicht für alle die ideale Vorstellung. Ob Jakob Bretscher seinen Job gerne gemacht hat, wissen wir heute nicht so genau. Allerdings wird er vom Pfarrer immer wieder positiv erwähnt. «Den Geistlichen war es aber natürlich auch ein Anliegen, dass der Schulbetrieb gerade in so einer Umfrage gut dargestellt wird. Schliesslich fiel das in ihren Verantwortungsbereich», meint PHZH-Bildungsforscherin De Vincenti. Ob es nun echte Wertschätzung war zwischen Pfarrer und Lehrer oder nur eine Zweckgemeinschaft, werden wir wohl nie genau herausfinden.
Was wir aber wissen ist, wie viel dieser Lehrer denn für seine Mühen bekommen hat. Sein Lohn war ein Flickwerk aus verschieden Quellen. Ganz direkt deshalb die Frage an den Pfarrer in der Umfrage: «Was trägt zu des Schulmeisters Besoldung die Obrigkeit bey? Was die Gemeinde? Was die Eltern?» Ausser einem Schulschilling und einem Holzscheit, welches die Eltern den Kindern wöchentlich mitgaben, gab es mehrere Säcke Kernen und Hafer (im damals üblichen Hohlmass Mütt angegeben) und auch etwas Geld. Für die Expertin für Schulgeschichte keine Überraschung: «Zu dieser Zeit zirkulierte Geld im eher ärmeren Teil der Bevölkerung noch sehr wenig.» Und nebenher bestellte Jakob Bretscher mit seiner Familie noch sein eigenes Land, war also auch noch «Teilzeitbauer», denn vom Lohn als Lehrer hätten er und seine Familie kaum Leben können.
Ein «Lesetrunk»
In Töss gingen vielleicht nicht alle Kinder gleich gerne zur Schule. Und manche wären wohl gerne hin aber mussten stattdessen zu Hause als Arbeitskraft mit anpacken. Gut vorstellbar ist allerdings, dass sich viele Schüler:innen jeweils auf den Frühling freuten. Wenn dann die Prüfungen erledigt, wenn Psalmen erfolgreich auswendig vorgetragen waren, gab es eine Belohnung für die Schulkinder. Von «Weggelein» ist da in der Umfrage die Rede. Je grösser das Kind und je besser die Leistung, desto grösser sei dieses «Weggelein» gewesen. Und auch Pfarrer und Schulmeister gönnten sich mit der Schulgemeinde etwas. Erwähnt der Pfarrer doch in der Umfrage, dass es nach dem Examen und das scheint nicht untypisch im damaligen Weindorf Töss, einen «Lesetrunk» gab.
Simon Berginz
Schulumfrage 1771?
1771 gibt es im Raum Zürich einige aufklärerische Gesellschaften, welche gesellschaftliche Verbesserungen anstreben. Die «Moralische Gesellschaft» sorgt sich um den moralischen Zustand der Bevölkerung. Zeitgleich gibt es unabhängig davon eine angeregte Diskussion über eine Schulreform. Vor allem aufklärerisch denkende Pfarrer aus dem Zürcher Oberland forcieren diese Idee. So unterschiedlich die Anliegen beider Bewegungen sind, finden sie irgendwann zueinander. Es entsteht ein Fragebogen über den Schulunterricht in der Zürcher Landschaft. Dieser wird via Dekane bzw. Kapitel an die Pfarrer aller Kirchgemeinden verschickt. Teil 1 deses Beitrags erschien in der Tössemer Ausgabe von Februar 2024