Interview mit der Kantorin der reformierten Kirchgemeinde Töss

Singen ist eine essenzielle Seelennahrung

Sie kam, dirigierte und erhielt als 29Jährige die Stelle als Kantorin der Evangelisch-Reformierten Kirche Töss. Carmen Reverdin, die 2019 ihr Studium an der ZHDK abschloss, hat seit drei Jahren die musikalischen Fäden der reformierten Kirche Töss in der Hand. Sie leitet die Chöre und die Mitsingwochen und hat mit dem Requiem von Wolfgang Amadeus Mozart eindrücklich bewiesen, dass sie einen Chor und ein Orchester zu hervorragenden Leistungen motivieren kann.

Interview: Karin Salm

Du hast Dein Studium im Sommer 2019 abgeschlossen und bist im Herbst 2019 gleich als Kantorin in Töss gestartet. Ein Blitzstart!

Das war wie ein Sechser im Lotto. Solche Stellen gibt es tatsächlich nicht sehr viele. Und wer das Glück hat, so eine Stelle zu erhalten, bleibt oft lange. Darum sind die Chancen, eine solche Stelle zu bekommen gering.

Als junge, erst 29jährige Kantorin ohne lange Berufserfahrung vor die Chöre zu stehen – gab es anfänglich Autoritätsprobleme?

Ich habe gehört, dass ich von allen Chören praktisch einstimmig gewählt worden sei. Das heisst: Man hat mich sehr freundlich empfangen und alle schienen erleichtert zu sein, dass nach dem überraschenden Rücktritt der Kantorin Tabea Schöll rasch eine Nachfolgerin gefunden wurde. So war ich vielleicht auch für die Kirchgemeinde und die Chöre ein Sechser im Lotto.

Kantorin klingt irgendwie auch sehr bedeutungsvoll – und erinnert mich natürlich an den grossen Kantor Johann Sebastian Bach!

Ich trage den Titel sehr gerne. Er macht mich auch stolz. In den reformierten Kirchen in der Schweiz ist der Kantor zuständig für sämtliche Musik in der Kirche. Dahinter stecken enorme Gestaltungsmöglichkeiten, und hier in Töss habe ich einen grossen Freiraum. Meine Funktion sehe ich in der dienenden Rolle.

Das musst Du erklären.

Ich stelle meine Fähigkeiten zur Verfügung, um den Menschen, die in den Chören singen, möglichst viele Erfolgserlebnisse zu ermöglichen. Die Anforderungen an das Kantorenamt sind hoch: Ich musiziere mit allen Altersgruppen, von kleinen Kindern bis zu ganz alten Menschen, und zudem in vielen Stilrichtungen.

Eingestiegen bist Du mit Mozarts Requiem –einem «Hit», den alle kennen und der schon x-fach in wunderbaren Aufnahmen vorhanden ist. Warum sich so exponieren?

Zum einen wollte ich ein Werk aufführen, das viele elektrisiert und den Wunsch weckt, mitzumachen. Die Kantorei hat einen grossen Pool von Projektsänger:innen, die gerne singen, aber dem Chor nicht fest beitreten wollen. Ich wollte, dass möglichst viele mitmachen und wir uns kennenlernen. Diese Strategie ist aufgegangen. Zum andern ging es mir darum, in Übung zu bleiben. Mein Diplomprojekt war eine «grosse Kiste» mit Chor und Orchester.

Die Kirche ist für grosse Werke doch eher klein.

Ja – das war am Anfang schon ein Wermutstropfen. Wir haben mit den vier Chören ein so grosses Angebot, aber der Raum begrenzt die musikalischen Möglichkeiten. Aber mir wächst die Kirche immer mehr ans Herz, weil sie sich mit ihrer akustischen Balance wunderbar für den Chorklang eignet.

Das Requiem hast Du mit dem Dirigentenstab dirigiert. Das ist für eine Chorleiterin eher unüblich aber scheint Dir sehr gelegen zu haben.

Ja. Die Arbeit mit einem Orchester macht mir grossen Spass. Ich bekomme immer wieder Anfragen, andere Chöre zu übernehmen. Chöre habe ich aber genug. Wenn etwas Zusätzliches dazukommen sollte, dann wäre es ein Orchester.

Zurück zu Deinem Anfang in Töss und dem Requiem, das für Ostern 2020 geplant war. Corona hat Dir einen zünftigen Strich durch die Rechnung gemacht. Eine kleinere Katastrophe?!

«Wir bleiben kreativ, flexibel und optimistisch» – das war mein Leitsatz. Ich bin froh, dass alle Chöre diese schwierige Zeit überstanden haben, denn mit Corona haben sich viele Chöre aufgelöst. Dass die Chorgemeinschaften lebendig geblieben sind, hat vermutlich auch mit den Online-Proben, der Stimmbildung in kleinen Gruppen, den Proben mit dem halben Chor und den musikalischen Advents- und Frühlingskalendern zu tun. Auch die Gemeinde habe ich besser kennengelernt, weil ich in jedem Gottesdienst die Gemeindelieder solistisch gesungen habe, als der Gemeindegesang während Corona verboten war.

Das nächste grosse Projekt ist «Ein deutsches Requiem» von Johannes Brahms. Warum?

«Ein deutsches Requiem» ist ein Herzensstück von mir. Es ist ein sehr reformiertes Werk mit deutschen Texten, mit denen man sich intensiv mit dem Thema Tod auseinandersetzen kann. Brahms hat die Texte selbst umsichtig ausgewählt und dazu eine traumhaft schöne Musik komponiert. Kommt noch etwas ganz Praktisches dazu: Von Brahms selbst gibt es eine Version für Klavier und Chor und diese passt perfekt in die Kirche Töss.

Und für Brahms Requiem braucht es wieder Projektsänger:innen?

Klar! Die sind auch herzlich willkommen.

Ich singe seit einem Jahr selbst mit in der Kantorei und da ist mir aufgefallen, dass Du beim Proben die Stücke oft von hinten beginnst.

Wenn ich immer von vorne beginne, singen wir bis zu einer Stelle, wo’s nicht mehr funktioniert und der Chor auseinanderfällt. Man konzentriert sich darauf, die schwierige Stelle zu meistern und singt dann weiter zur nächsten wackeligen Stelle. Das heisst: der Chor stolpert von Fehler zu Fehler, der dann ausgemerzt wird. Bei jedem Unterbruch gibt es einen kleinen Frust. Wenn ich von hinten beginne, kommen wir beim Singen immer wieder zu Stellen, die wir vorher geprobt haben, man taucht ein in Bekanntes. Emotional ist das also ein ganz anderer Prozess.

In welcher Musik fühlst Du Dich am meisten beheimatet?

Ich bin musikalisch sehr breit aufgestellt und bin darum kein Fan von Ranglisten. Für den Jazzclub Moods in Zürich habe zum Beispiel ein Jahresabonnement. Aber wenn ich auf die berühmte Insel verbannt würde, würde ich Noten von Johann Sebastian Bach mitnehmen. Es wäre mein grosser Traum, Bachs Matthäuspassion aufzuführen: Sie ist doppelchörig, braucht ein grosses Orchester und dauert drei Stunden. Das sprengt natürlich die Grenzen hier in Töss.

Ich habe den Eindruck, dass die Kantorei dringend Nachwuchs braucht – oder ist das Singen in einer Kantorei schlicht zu altmodisch?

Überhaupt nicht! Singen ist für sehr viele Menschen eine essenzielle Seelennahrung.  Aber es stimmt schon: Wir stehen einem gesellschaftlichen Wandel gegenüber. Einerseits ist der langfristige und verbindliche Einsatz in einem Verein immer weniger populär und andererseits verliert auch die reformierte Kirche immer mehr Mitglieder.  Aber ich bin überzeugt, dass ich mit guter Arbeit Voraussetzungen schaffe, damit die Leute einen triftigen Grund haben, in Töss zu singen. Die Bedeutung des Singens hat übrigens nichts mit der Konfession zu tun. In der Kantorei singen überzeugte Agnostiker, die aber treue Mitglieder des Vereins sind. Singen ist so universell, dass sich dafür immer ein Gefäss finden wird. Und Du darfst nicht vergessen: Singen ist ein generationenübergreifendes Projekt.