Der Tössemer geht in den 65. Jahrgang – Ist er nun Reif für die Rente?

«Unternehmungslustig und munter tritt heute erstmals «De Tössemer» seinen Weg durch unsern Stadtkreis an. Er hofft, dass er dabei Anklang findet, und gedenkt, in freier Folge hin und wieder zu erscheinen.» Dies waren die ersten zwei gedruckten Sätze der Erstausgabe des «Tössemer» vom März 1958. Die Hoffnung ist bis heute dieselbe geblieben – eine Rückschau durch 64. Jahrgänge.

Von Nadia Pettanice

Üblicherweise beschäftigen sich Vereine, Institutionen und auch Zeitungsredaktionen vor anstehenden grossen Jubiläen mit der eigenen Geschichte. Meistens folgen darauf lange Gesichter, denn die Archive sind in der Regel in einem kläglichen und unsortierten Zustand, weil sie über die Jahre hinweg völlig unkontrolliert vor sich hin wuchern konnten. Oftmals werden sie zudem durch die Hände, Festplatten und Estriche verschiedener Mitglieder gereicht und alle entwickeln ihr «eigenes System», das sich den Nachfolgern nicht unbedingt erschliesst.  Auch bei «De Tössemer» hat sich mittlerweile eine beachtliche Menge an Artikelentwürfen, Seitenspiegeln und kulturhistorisch wertvollen Fotografien angesammelt, die einer neuen Systematisierung bedürfen.

Zum Glück ist der effektive Output unserer Lokalzeitung jetzt schon sehr gut fassbar – dafür sorgt die Stadtbibliothek, die alle Ausgaben sammelt. «De Tössemer» füllt exakt eine Transportkiste der Sammlung Winterthur. Alle erschienen Ausgaben bis 2010 sind in vier Bände zusammengefasst und tragen die Signatur «VTZQ_13». Unsere Zeitung lagert somit irgendwo im Aussenmagazin zwischen dem «Hirzel-Bott» und den «Monatsplakaten der verschiedenen Veranstaltungen in Winterthur». «De Tössemer» erscheint nun also schon fast ein ganzes Arbeitsleben lang. Zeit sich einmal locker durch die vergangenen 64. Jahrgänge zu blättern.

Eine Quartierzeitung für Alle

Die erste Ausgabe von 1958 war stolze vier Seiten lang, behandelte sechs verschiedene Themen und war mit zwei Fotos illustriert. Die ersten beiden ehrenamtlichen Redaktoren waren Willi Schneider und Arthur Bachmann. Sie wurden durch engagierte Mitarbeitende unterstützt, die entweder Artikel verfassten, oder sich um die Inserate kümmerten. Für die erste Ausgaben konnten bereits vier Inserenten gewonnen werden: Der Konsumverein Winterthur, das Restaurant zum «Löwen» in Töss, die Gärtnerei Knechtle und die Wäscherei R. Krieg-Bräm.

Die Herausgeberschaft war und ist bis heute die Sozialdemokratische Partei Töss. Dennoch verstand sich «De Tössemer» nie als ausschliessliches Parteiblatt, sondern zeigte sich von Anfang an für «all jenen offen, denen das Geschick unserer näheren Umgebung am Herzen liegt.» Damit darf «De Tössemer» für sich reklamieren, die erste Quartierszeitung der Stadt Winterthur zu sein und damit Pionierarbeit geleistet zu haben.  Der eigentliche Treiber für die Gründung der Zeitung war die Forderung nach einem eigenen Schwimmbad in Töss.

Die damaligen Redaktoren schienen sich nicht ganz sicher gewesen zu sein, ob die von ihnen proklamierte Offenheit auch wirklich in der Bevölkerung angekommen war. Deshalb lancierten sie bereits in der fünften Nummer eine Umfrage und wollten von der Leserschaft wissen, was für lokale Anliegen sie beschäftigt, was ihnen an den Sozialdemokraten gefällt oder missfällt und was sie von einer Linkspartei eigentlich erwarten. Der Rücklauf war mit 0% gelinde ausgedrückt: ernüchternd. Deshalb fragte die Redaktion in der sechsten Nummer von 1960, ob «De Tössemer» überhaupt noch weiter erscheinen soll. Bei dieser Gelegenheit wurde auch gleich wieder ein Einzahlungsschein beigelegt und um Spenden gebeten, da die Druckkosten mit den Inseraten allein nicht gedeckt werden konnten. Nun gab sich die Leserschaft zu erkennen: Neben ausgefüllten Einzahlungsscheinen flatterten auch Bemerkungen in die Redaktion, so hiess es beispielsweise «De Tössemer freut uns jedesmal, darum bitte Ja!» oder «Hier mein Obolus für den armen «Tössemer», der weiterleben soll». Das Verdikt war damit eindeutig und lässt sich in etwa so interpretieren: Bitte macht weiter – aber fragt uns nicht nach Themen, sondern überrascht uns!»

So wurde Artikel um Artikel produziert. Die Schreiberlinge beschäftigten sich mit den baulichen Veränderungen in Töss, der Sozialdemokratie, mit den Menschen in Töss, den lokalen Vereinen sowie Wirtschaften, dem Gewerbe und natürlich dem Schwimmbad und der Zürcherstrasse und immer wieder mit dem Schwimmbad und der Zürcherstrasse. Ersteres feierte 1970 endlich die Eröffnung. Die Zürcherstrasse hingegen wurde zum Evergreen.

«De Tössemer» als Medizin gegen die «Schweizerkrankheit»

Überrascht war die Redaktion darüber, wo der Tössemer überall gelesen wurde: 1961 berichteten die Zeitungsmacher stolz, dass ihr Lokalblatt in Deutschland, Dänemark, Norwegen und sogar im fernen Amerika als wirksame «Medizin gegen Heimweh» zum Einsatz kam. Rührend war auch das Brieflein der damals 12-jährigen Carol Delisle aus New York, welche die «Lokal-Zeitung, Töss, Switzerland» angeschrieben und die Redaktion darum gebeten hatte, ihr doch bitte eine englischsprechende Brieffreundin zu vermitteln. Ein Mädchen wurde offenbar nicht ausfindig gemacht, dafür aber ein Knabe. Was wohl aus dieser Brieffreundschaft geworden ist?

Eine Konstante in der Berichterstattung im «Tössemer» ist die Tendenz über die «Gute alte Zeit» zu reflektieren. Das «Heimweh nach dem alten Töss» hat nie nachgelassen und so wurde die hiesige Geschichte auf alle nur erdenkliche Art und Weise zusammenrecherchiert und aufbereitet. Es scheint eine Eigenart der Tössemer-Redaktion zu sein, dass sie immer wieder begeisterte und hartnäckige Archivgänger/innen in ihren Reihen wissen konnte.

Es war Dorfchronist Walter Bretscher-Kraetzer, der die Vermittlung von Lebenserinnerungen zu einer eigenen Kunstform im «Tössemer» gemacht hat.  Als «ein Hintergässler» erinnerte er sich über zwanzig Jahre lang immer wieder an jene Zeiten, in denen Töss noch ein Dorf mit ganz eigentümlichem Charakter war. Diese Eigentümlichkeit bewahrte er auch in seinem sprachlichen Ausdruck, denn als «ein Hintergässler» schrieb er konsequent in Mundart. An Themen mangelte es ihm nicht. Er berichtete über die Tössemer Chilbi, über die «Coiffeure vo Töss», «s erschte Auto z Töss» über die «Fabrikarbeiter vo Töss» bis hin zu den «Rösser vo Töss». Diese faszinierten ihn offenbar besonders, denn er widmete ihnen gleich drei ganze Beiträge. Mit dem Tod von Walter Bretscher im Jahr 1984 verlor das Lokalblatt nicht nur einen äusserst produktiven Autor, sondern auch Mundartartikel sollten fortan mit wenigen Ausnahmen der Vergangenheit angehören. Ein Stück Tössemer-Sprachkultur ging damit verloren. Lebenserinnerungen hingegen fanden immer wieder Einzug in die Zeitung und sind auch heute noch stets in der Redaktion willkommen.

«De Tössemer» bekennt Farbe

Ausgerechnet der kapitalistische Konsumtempel Nr. 1. – das Zentrum Töss – brachte 1988 erstmals Farbe in die Zeitung. In leuchtendem Rot ragte die altbekannte Dartscheibe inklusive Pfeil aus dem ganzseitigen Inserat auf der letzten Seite. Ohnehin gehörte das Zentrum zu den treusten Inserenten. Offenbar musste man mittlerweile auffallen, denn der 31. Jahrgang von 1988 war 28 Seiten lang und hatte ganze 104 Inserate! «De Tössemer» war etabliert.

1990 waren die Themen immer noch die Gleichen geblieben: Die Zürcherstrasse sorgte nach wie vor für Gesprächsstoff, das Schwimmbad war inzwischen 20 Jahre alt geworden und wieder mal erinnerte man sich wehmütig an die gloriose Zeit der Tössemer Chilbi. Auch über die Vereine gab es regelmässig Neues zu berichten, schliesslich alterten sie mit «De Tössemer» mit und dieser hatte es sich zur Gewohnheit gemacht sie wahlweise im 5- oder 10-Jahres-Takt ordentlich zu feiern und zu würdigen. Immer gleich blieb der zündrote Dartpfeil des Zentrum Töss, welcher die Leserinnen und Leser jeweils auf der letzten Seite mit Kaufaufrufen verabschiedete.  Bis 1996 war diese Dartscheibe der einzige Farbtupfer. 1996 zog sich das Zentrum als Inserentin schleichend aus dem «Tössemer» zurück.

Die Zeitung fristete nun wieder ein Dasein in Schwarzweiss. Erst 2003 war es wieder ein Inserent, der für Farbakzente sorgte. Diesmal war es das bau team Töss-Inserat, das mit oranger Farbe aufwartete. Eine Tradition, die sich bis heute erhalten hat. Im März 2005 (also 17 Jahre nach dem Zentrum Töss) zog «De Tössemer» dann nach. Nicht nur wurde der Zeitung ein brandneues Layout verpasst, sondern sie erstrahlte erstmals mit markantem roten Farbakzent: «Der Tössemer setzt sich stark für einen neuen Aufbruch in Töss ein – und macht gleich selbst ernst damit […]» hiess es in einer kleinen Infobox.  Die Zeitung wurde damit nicht nur röter, sondern sie wurde dank doppelter Redaktionsverstärkung auch weiblicher. 2012 übernahm mit Regina Speiser erstmals eine Frau die Redaktionsleitung. Sie war auch die erste von der SP gewählte Blattmacherin, die selbst kein Parteimitglied war. Die bei der Lancierung proklamierte Offenheit gegenüber in Töss engagierten Menschen hatte damit den Chefredaktionsposten erreicht.

Mit dem Weggang von Regina Speiser als Blattmacherin und dem gleichzeitigen Eintritt des sich im «Unruhezustand» befindlichen Landbote-Schreiberlings Martin Gmür, hat sich der Altersdurchschnitt in der Redaktion tatsächlich ein gutes Stück weiter in Richtung Rentenalter verschoben. So starten wir – etwas älter geworden – in den 65. Jahrgang.

Wir sind reif für das Jahr 2022. Wir denken nicht daran, «de Tössemer» in den Ruhestand zu schicken, schliesslich fängt jetzt der goldene Lebensabschnitt doch erst an. Wir werden ihn weiterhin in regelmässiger Folge erscheinen lassen und hoffen, dass er nach wie vor Anklang findet.