Von Bretscher bis Sahli, von Zehnten, Armenschule und Fabrikgeset
Am 24. März 2019 werden im Kanton Zürich der Regierungsrat und der Kantonsrat neu gewählt. Der letzte Regierungsrat mit Wohnsitz in Töss war der Sozialdemokrat Albert Bachmann von 1967 bis 1983. Im Kantonsrat direkt vertreten ist unser Stadtteil aktuell durch Manuel Sahli von der AL. Wie aber hat der Kantonsrat seit der Schaffung des Kantons 1803 Töss beeinflusst? Wer hat Töss im Zürcher Ratshaus vertreten? Matthias Erzinger hat sich im Staatsarchiv einige Notizen zu Namen und Geschäften gemacht.
1803 hat Napoléon genug: Da sich die Zürcher seit 1798 nicht auf eine verfassungsgebende Körperschaft, geschweige denn eine Verfassung einigen können, verfügt er für den Kanton Zürich selbst eine neue Verfassung. Damit beginnt an sich die Existenz des Kantons Zürich so richtig; der seit etwa 1200 existierende Stadtstaat Zürich ist am Ende. Töss war seit der Reformation der Landvogtei Kyburg zugeordnet und damit Untertanenland der Stadt Zürich, während Winterthur eine selbständige freie Stadt war.
Die Gemeinde Töss wird dem District Winterthur zugeteilt
Die Verfassung von 1803 sieht einen «Grossen Rath» – etwa vergleichbar mit dem heutigen Kantonsrat – und einen «Kleinen Rath» vor. Der «Kleine Rath ist die eigentliche Regierung, die jedoch mit deutlich weniger Kompetenzen ausgestattet wird als der heutige Regierungsrat. Um die Wellen nach der Abschaffung des «Stadtstaates» 1798 zu beruhigen, folgt Napoléons Verfassung nur sehr beschränkt den Leitlinien der französischen Revolution «Liberté – Egalité – Fraternité». Nach wie vor verfügt die Stadt Zürich über ein deutliches Übergewicht im Grossen Rath von zwei Dritteln der Sitze, und das Wahlrecht wird auf Personen beschränkt, die mindesten 500 Franken Vermögen ausweisen (was in etwa dem Gegenwert eines Hauses entspricht), verheiratet oder mindestens 30 Jahre alt sind.
Töss wird dem Wahlkreis Wülflingen zugeteilt, welcher damals über vier Sitze verfügt. Berechnet werden diese nach der Anzahl der Bürger, nicht jedoch aufgrund der «Seelen». Frauen und Kinder oder Zugezogene spielen keine Rolle. Erst 1938 wird für die Berechnung der Sitze die ganze Bevölkerung als Grundlage genommen.
Peter Bretscher, der Finanzspezialist
Bereits in den ersten Protokollen taucht ein «Cantonsrat Bretscher» Töss auf. Aufgrund der Akten ist der Vorname nicht eruierbar, allerdings liegt die Vermutung nahe, dass es sich dabei um Peter Bretscher handelt, der bereits nach der Revolution als Finanzfachmann für die Helvetische Republik arbeitete und die Ländereien des Klosters Töss einschätzte. «Cantonsrat Bretscher» ist ziemlich einflussreich, gehört er doch mehrere Jahre der aus sechs Mitgliedern zusammengesetzten Kommission an, welche die Staatsrechnung des jungen Kantons prüft.
Der Name Bretscher fällt auch bei den Geschäften auf, die mit Töss in Zusammenhang stehen: Ein Conrad Bretscher und ein Heinrich Bretscher erhalten zum Beispiel gemäss einem Protokoll vom 18. Februar 1805 je ein neues Tavernenpatent. 1816 entnehmen wir einem Regierungsratsprotokoll, dass die Wahl von Conrad Bretscher zum Gemeindeamman von Töss genehmigt sei. Gemäss Steuerbuch ist Conrad Bretscher damals als Wirt und Metzger einer der vermögendsten Einwohner von Töss.
Der Loskauf der Zehnten und eine Armenschule
Die Zeit bis etwa 1830 ist von einem Auf und Ab der jungen Republik geprägt. Immer wieder steht die Frage nach mehr Einfluss der «Landschaft» (wobei damit vor allem die vermögenden Bauern und Landbesitzenden gemeint sind) auf Kosten «der Stadt» im Raum. Insbesondere die Winterthurer, die vor 1798 unabhängig von Zürich waren, sind unzufrieden und kritisieren das Übergewicht der Stadt Zürich. Töss taucht in diesen Jahren mehrfach in Kantonsratsprotokollen auf. So geht es immer wieder um den Loskauf von den Zehnten und Abgaben, die aus der Zeit des Stadtstaates stammen. Für die Tössemer Bauern ein wichtiges Geschäft, speziell auch wegen der Reben, die mit dem sogenannten «Nassen Zehnten» belegt sind. Bereits 1804 wird ein Loskaufsgesetz verabschiedet – durch die Mehrheitsverhältnisse jedoch klar aus Sicht der ehemaligen Zehntenempfänger geprägt, so dass die Loskaufsummen für viele Bauern unrealistisch sind.
Ein wichtiges Geschäft ist auch der Bau der Strasse durch das Kemptthal. Da streiten sich Töss und der Kanton darüber, wer welche Kosten übernehmen muss – ob der Kanton, welcher zu Beginn des 19. Jahrhunderts in der Auwiesen noch immer eine Zollstation betreibt und Weggeld einfordert – oder die Gemeinde, welche inzwischen bis Kemptthal reicht. Letztlich muss Töss zwar die Fuhrwerke und die Männer liefern, welche die Arbeiten vornehmen, dafür stellt der Kanton aber einen Beitrag in Aussicht und liefert das Baumaterial.
«Cantonsrat Bretscher» ist auch einer der Initianten für die erste «Armenschule», welche durch den Kanton auf dem damals noch zur Gemeinde Töss gehörenden Bläsihof eingerichtet wird. Zusammen mit dem Dättnau und dem Rossberg wird der Bläsihof 1810 «in Töss eingepfarrt», respektive der Gemeinde Töss zugeteilt. Am 31. Januar 1818 wird auf dem Hof eine «Armenschule» eingerichtet: Knaben aus «der untersten und verdorbensten Klasse» sollen hier zu «tüchtigen Güterarbeitern» erzogen werden, so dass sie «für die Gesellschaft von Werthe sind». Diese Schule ist nicht zuletzt auch als Reaktion auf den Ausbruch des Vulkans Tambora 1815 in Indonesien zu verstehen. Dieser Ausbruch führt 1816 in weiten Teilen der Ostschweiz zu einer Hungersnot, da durch die Asche des Vulkans die Sonneneinwirkung stark vermindert wird, und im Sommer 1816 kaum Ernten eingefahren werden. Im Kanton Zürich gibt es nur beschränkt Bestrebungen, den Hungernden auf der Landschaft Unterstützung zukommen zu lassen, während zum Beispiel in der Westschweiz Getreide via Rhone importiert und an die Bedürftigen verteilt wird.
1921 sind bereits dreissig Zöglinge auf dem Hof. Im Jahresbericht der Kantonsratskommission heisst es: «Merkwürdig und erfreulich ist zu vernehmen, dass, mit wenigen Ausnahmen, alle diese jungen Leute, davon ein Theil schon in großer Verdorbenheit war, als sie in die Anstalt eintraten, zu fleissigen, genügsamen und ordentlichen Menschen umgewandelt wurden, und gute Hoffnungen gewähren, ihren künftigen Beruf als wackere und verständige Güterarbeiter und Landwirthe zu erfüllen.»
1926 wechselt der Ton: der landwirtschaftliche Ausbildner muss aus «moralischen Gründen entfernt werden», der Lehrer tritt eine Stelle in Winterthur an, und zudem steigen die Kosten für den Staat weiter an, während das Ziel, diese Kosten durch den Verkauf der landwirtschaftlichen Produkte zu decken, aufgrund eines Preiszerfalls nicht erreicht werden kann. Die «löbliche Aufsichtskommission» und der Rath halten zwar fest, dass «die fragliche Anstalt ihrem Zwecke entsprochen habe, in so weit dieser auf die Errettung verwahrloseter Knaben aus einer durch die allgemeine Noth vergrösserten moralischen und physischen Verdorbenheit berechnet war.»
In Zahlen heisst das Fazit: Von den 28 Ausgetretenen wurden 5 zu Handwerkern ausgebildet, 6 als «misslungen entfernt», 4 durch Tod oder Krankheit der Anstalt «entzogen» und 13 ihrer «eigentlichen Bestimmung gemäss» bei verschiedenen Dienstherren als Knechte untergebracht. Dem Grossen Rath sind jedoch die Kosten von jährlich rund 3000 Franken zu hoch. Am 24. Juni 1826 wird beschlossen, die Armenschule auf dem Bläsihof ersatzlos aufzuheben. Dafür erhält die Mühle Töss eine neue Scheune für 2000 Franken. Der Gesamtaufwand des Kantons beträgt 1925 rund 800‘000 Franken.
Der liberale Aufbruch und der fundamentalistische Putsch
Die Schliessung der landwirtschaftlichen Schule ist auch Ausdruck einer zunehmenden politischen Verhärtung. Auf «der Landschaft» wächst der Unmut über die politische Vorherrschaft der Stadt. In der Stadt finden die Gedanken einer liberalen Gesellschaftsordnung eine immer grössere Anhängerschaft, während die Anhänger der alten, feudalen Gesellschaftsordnung noch immer wesentlich die Geschicke des Staats bestimmen. 1831 wird der Bann gebrochen: Eine neue Verfassung bringt eine neue Wahlkreiseinteilung, ein Stimm- und Wahlrecht für alle über 20-jährigen Männer unabhängig ihres Vermögens und Einkommens, eine Volksschule für alle und die Trennung von Kirche und Schule. Der Kantonsrat erhält sehr viel Macht. Er wählt Regierung, Gerichte, Beamte und später auch die eidgenössischen Parlamentarier.
Auch der Tössemer Gemeindepräsident Heinrich Ernst wird als Liberaler in den Grossen Rath gewählt. Die neue Ordnung kommt vor allem dem Mittelstand in Zürich und Winterthur, aber auch den Besitzenden auf dem Land zugute. In Töss entsteht jedoch mit der Industrialisierung durch die Familie Rieter und der gleichzeitigen Probleme in der Landwirtschaft eine immer grössere Schicht von Armen. Diese und die besitzlose Landbevölkerung sind empfänglich für die religiösen Fundamentalisten, welche die Gottlosigkeit der neuen Verfassung beklagen. Unterstützt werden sie von den letzten städtischen Aristokraten. Am 6. September 1839 ziehen rund 2000 Männer nach Zürich unter dem Slogan: «Vorwärts, wer ein guter Christ ist!» Auf dem Münsterplatz treffen Sie auf Militär, der liberale Regierungsrat Hegetschweiler will schlichten, doch er wird erschossen. Nach einem kurzen Gefecht sind 14 Aufständische tot. Der Regierungsrat und der Grosse Rat – soweit sie aus liberalen Kreisen stammen – treten ab. Darunter ist auch Heinrich Ernst. Bei den Nachwahlen in Töss wird Conrad Meyer als Vertreter der Aufständischen gewählt.
Doch der fundamentalistische Christenstaat ist nur von kurzer Dauer: Bei den Kantonsratswahlen von 1844 werden die Fundamentalisten sang- und klanglos abgewählt. Nun übernehmen erneut die Radikal-Liberalen die Macht im Kanton Zürich. Ihr Anführer ist Alfred Escher, der die kantonale Verwaltung radikal reformiert. Seine konsequente Ausrichtung auf die Bedürfnisse der Industriellen und die Fokussierung auf Zürich weckt schon bald wieder Opposition, die sich in Winterthur – und Töss – akzentuiert. Töss wird inzwischen im Kantonsrat durch Heinrich Rieter von der Maschinenfabrik vertreten. Er ist ein treuer Partner Alfred Eschers.
Der Arbeiterpfarrer
1868 werden Escher und sein System durch die demokratische Bewegung aus Winterthur weggeschwemmt. Bereits 1865 wurde in Töss der Arbeiterverein gegründet, der unter anderem das Ziel hat, eine neue, direkt-demokratische Verfassung anzustreben. Präsident des Arbeitervereins ist der junge Theologie-Student Johann Felix Meyer, der sich für die Genossenschaftsbewegung und gegen das «System Escher» einsetzt. Nach seiner Ordination 1867 wird er zunächst Vikar, später Verweser und 1870 schliesslich gewählter Pfarrer in Töss.
Nach wie vor gilt bei den Kantonsratswahlen ein Mehrheitswahlrecht. Bei den Wahlen 1875 treten die Demokraten zusammen mit den Arbeitervereinen in verschiedenen Wahlkreisen mit gemeinsamen Listen an. Im neuen Wahlkreis Töss-Wülflingen mit acht Sitzen wird Meyer als einer der ersten Sozialisten in den Kantonsrat gewählt. Er setzt sich ein gegen die Kinderarbeit, für ein neues Fabrikgesetz, oder auch für die «Getreideinitiative», die eine staatliche Kontrolle des Getreidehandels fordert. Es ist einer der ersten politischen Vorstösse der Arbeiterbewegung im Kanton Zürich. Wegen seines politischen Engagements ist seine Widerwahl als Pfarrer 1880 umstritten, doch er wird wieder gewählt. Er stirbt im April 1882 erst 36-jährig. Der Schriftsteller J. C. Heer beschreibt ihn als «temperamentvollen Weltverbesser von tiefem sozialen Empfinden».
Mit Meyer stirbt auch einer der Garanten der Zusammenarbeit von Demokraten und Arbeiterverein Töss. Anstelle des Arbeiterpfarrers wird Herman Greulich zum Sprecher der Arbeiterschaft, während bei den Demokraten die sozial gesinnten Kreise um Salomon Bleuler ebenfalls durch die Vertreter der industriellen Familien Ziegler, Sulzer und Rieter an den Rand gedrängt werden. Bei den nachfolgenden Wahlen kommen keine gemeinsamen Listen mehr zustande – das führt dazu, dass aufgrund des Mehrheitswahlrechts im Wahlkreis Töss bald alle acht Sitze durch Sozialdemokraten besetzt werden.
Sieg beim Proporz, der Tössemer Einfluss schwindet
Trotzdem setzen sich Arbeiter gemeinsam etwa mit Bauern für ein Verhältniswahlrecht ein. 1914 noch scheitert ein Versuch, aber 1916 wird eine entsprechende Initiative klar angenommen. 1917 finden die ersten Kantonsratswahlen im Verhältniswahlrecht statt und bringen einen radikalen Wandel des Kantonsrates. Mit 80 Sitzen wird die SP stärkste Fraktion. Mit der Eingemeindung von 1922 aber wird die neue Stadt Winterthur zu einem einzigen Wahlkreis. Töss ist nur noch unregelmässig im Kantonsrat vertreten. Trotzdem prägen immer wieder Tössemer die kantonale Politik. Edwin Hardmeier ist 1960 der letzte Kantonsratspräsident aus Töss, bevor er wenig später in den Winterthurer Stadtrat wechselt. Arthur Bachmann ist Staatsanwalt, Kantonsrat und von 1967 bis 1983 Regierungsrat. Der letzte Sozialdemokrat aus Töss im Kantonsrat ist der Gewerkschaftssekretär Josef Bosshard von 1976 bis 1983.
Von 2003 bis 2007 vertritt Marianne Trüb, die frühere Gemeinderätin und Präsidentin der SP Töss die SP im Kantonsrat, allerdings wird sie im Wahlkreis Winterthur-Land gewählt. Aktuell schliesslich sitzt Manuel Sahli als Vertreter der AL im Kantonsrat. Er wurde 2015 als zweitjüngster Kantonsrat überhaupt gewählt, ist im Dättnau aufgewachsen und ging im Rosenau zur Schule. Seine Schwerpunkte im Rat sind unter anderem Grundrechte und Verkehr.
Matthias Erzinger
Quellen: Staatsarchiv des Kantons Zürich, www.staatsarchiv.djiktzh.ch; Stadtarchiv Winterthur; Manuel Sahli; Archiv «De Tössemer»