Die Siedlung Neumühle im September 2023 (Drohnenaufnahme: Nadia Pettannice)

Siedlung Neumühle in Töss

Vom Renditeobjekt zur Genossenschaftssiedlung

Sie liegt versteckt am Stadtrand, ist weitgehend unbekannt. Auch für Tössemer:innen. Eine Siedlung bei der Neumühle? Stimmt, da war glaub’ was. Obwohl sie etwas Spezielles darstellt, gibt es kaum Berichte darüber zu finden. Die Siedlung stellt eigentlich einen Sonderfall dar gerade in Zeiten des Wohnungsmangels und der hohen Mieten: Seit fünf Jahren ist die Siedlung kein Renditeobjekt mehr, sondern eine Siedlung der BEP, der Baugenossenschaft des eidgenössischen Personals. 139 Wohnungen mit über 300 Bewohner:innen zwischen der Eisenbahn, der Töss und der Auwiesenstrasse. Was hat sich geändert, seit die Siedlung dem kommerziellen Wohnungsmarkt entzogen wurde? Und wer kam damals überhaupt auf die Idee, eine solche spezielle Siedlung zu bauen?

Der Beitrag entstand in Zusammenarbeit mit dem Winterthurer Jahrbuch.

Die Siedlung Neumühle liegt versteckt hinter Bäumen und eintönigen Fassaden. Am Stadtrand. Auf den ersten Blick sind wir an einer der unattraktivsten Wohnlagen Winterthurs. Die Autobahn lärmt, die Einfallsstrasse ins Zentrum ist voller Stau, daneben die Eisenbahnlinie. Eine schmale Auffahrt führt von der Busstation weg. Nach wenigen Metern wird es hell. Ringsum Häusergruppen. Hohe, fünfstöckige Häuser mit spitzen Giebeln, wie man sie aus Deutschland kennt. Die Häusergruppen sind un- terschiedlich strukturiert, fast jede Fassade scheint an- ders. Dazu eine Farbgebung, die wieder mehr an die Cinque Terre erinnert. Dazwischen grosszügige Freiflächen mit Bäumen, ein riesiger Spielplatz im Zentrum.

«Ich wollte etwas Lebendiges, Freundliches schaffen», sagt Heini Buff. Er hat als Architekt vor über 30 Jahren die Siedlung für die damalige Winterthur-Versicherung entworfen. Buff ist keine der Winterthurer Architektur- Ikonen – sein Name ist nur wenigen bekannt. Entworfen hat er allerdings sehr viele Bauten, darunter u.a. die Re- haklinik in Bellikon, Schulhäuser in Neftenbach, ein Pfle- geheim in der Rheinau…. In den achtziger Jahren ist der Wohnungsbau nicht das treibende Element auf dem Immobilienmarkt, sondern die Bürobauten boomen. Die Politik versucht Gegensteu- er zu geben. Wohnanteilpläne werden festgesetzt – wäh- rend heute um Gewerberäume in Neubauten gekämpft wird, weil Wohnungen bessere Renditen versprechen. Rund 150 Wohnungen wird die Siedlung Neumühle schlussendlich umfassen, und Heini Buff hat sein Ziel erreicht: Die Siedlung ist keine düstere Ansammlung von Kojen, aus der man immer möglichst schnell weg will. Die Siedlung lebt.

Das an dieser Stelle überhaupt eine Siedlung entstanden ist, geht nicht zuletzt auf grossfliegende Pläne der Stadt Winterthur und des Rieter-Konzerns um 1940 zurück: Damals war das ganze Gebiet zwischen der Töss und dem Steilhang zum Dättnau, dem Auenrain, als neuer Stadtteil vorgesehen. Ein Bahnhof Auwiesen, Läden, Schulen, weit über tausend Wohnungen, Hochhäuser – das waren die Visionen der Stadtregierung. Aber die Zürcher Kantonsregierung plante statt der Siedlung die Autobahn – und setzte sich schliesslich durch. 1960 sind die Pläne in den Schubladen verschwunden – und die Autobahn wird gebaut. Aufgrund der Lärmbelastung entstehen Gewerbebauten, später das Schwimmbad. Nur das Land am nördlichen Tössufer, eingeklemmt zwischen Eisenbahn und Autobahnzubringer bleibt zuerst noch frei. Bei einer Umsetzung der ursprünglichen Pläne wäre das Gebiet eine absolute Toplage geworden. So schlummert die Fläche mehr als 20 Jahre weiter vor sich hin, bis die Maschinenfabrik Rieter als Besitzerin Anfang der achtziger Jahre mit den Planungen den Architekten Heini Buff mit ersten Studien zur Überbauung beauftragt.

Die Pläne für eine Überbauung in der Auwiesen aus dem Jahr 1940 (siehe auch Tössemer 2302..

Heini Buff: der Architekt

Er ist wenig bekannt in Winterthur, der heute 92jährige Architekt Heini Buff. Praktisch sein ganzes Leben hat er in Winterthur gearbeitet – doch ausser der Siedlung Neumühle sind kaum Bauten in der Stadt auf ihn zurückzuführen. «Es hat sich nicht ergeben» meint er, der die Öffentlichkeit nicht sucht. Er will auch heute kein Bild von sich publiziert sehen. Gebaut hat er vor allem Industriebauten. Oder die Schulhäuser der Gemeinde Neftenbach. Und eines seiner grössten Projekte war die Rehaklinik der SUVA in Bellikon auf dem Mutschellen, die 1974 eröffnet wurde. Sie wird weltweit bekannt – und verhilft ihm zu einem Grosauftrag im Nahen Osten, wo damals noch kaum jemand aus der Schweiz tätig war. «Eines Tages rief mich ein Mitarbeiter an, als ich auswärts unterwegs war. Du, es sind Araber da! Sie kommen aus Kuweit.» Und Buff erhält 1977 den Auftrag, eine Klinik mit 780 Betten im Wüstenstaat zu planen.

Die erste Skizze von Heini Buff für die Siedlung Neumühle stammt aus dem Jahr 1982

Anfang der 80er Jahre dann kommt die Anfrage der Maschinenfabrik Rieter. Er soll für das Areal bei der Neumühle eine Wohnsiedlung entwerfen. Es wird die einzige Wohnsiedlung im Portfolio von Buff bleiben. Er beschäftigt sich intensiv mit dem Projekt. «Es sollte eine lebenswerte, freundliche Siedlung werden. Keine aufgereihten Schuhschachteln.» Von Anfang ist ihm klar, dass die Siedlung autofrei sein soll. Die für Mehrfamilienhäuser untypischen Giebelbauten ordnet er so an, dass vier Höfe entstehen. Allerdings achtet er darauf, dass es keine abgeschlossenen Höfe sind, sondern sich immer wieder Verbindungen zu den anderen Siedlungsteilen öffnen. «Die Herausforderung war, Häuser zu konzipieren, die sowohl Nord-Süd als auch Ost-West orientiert sein konnten. Durch unterschiedliche Fassadengestaltungen, variierten Höhen und die mediterrane Farbgebung sollte der Charakter einer gewachsenen Siedlung erweckt werden, die auch Begegnungsorte umfasst. Seine letzten Entwürfe liefert Buff 1982 ab – mit der Umsetzung hat er nichts mehr zu tun: «Das überstieg die Kapazitäten meines Büros.»

Jürg Züblin: Hauswart und Anlaufstelle für alles

1993 wird die Siedlung fertiggestellt. Einer der ersten. die einziehen, ist der heute 60-jährige Jürg Züblin. Er findet hier seine Lebensstellung. «Nach einer Lehre als Schlosser bei Sulzer arbeitete ich zuerst auf dem Beruf. Daneben war ich nebenamtlicher Hauswart in der Siedlung in Seen, in der ich mit meiner Familie lebte. Mit der Zusage für die Stelle als Hauswart in der Neumühle dachte ich nicht, dass dies nun meine Lebensstelle sei.»

Neben seiner Arbeit als Hauswart wird er auch so etwas wie der «Vater» der Siedlung. Er organisiert gemeinschaftliche Aktivitäten, vermittelt bei Konflikten, ist Ansprechperson bei Problemen der Mieter:innen mit den Behörden. «Es ist eine kunterbunte Mischung von Menschen. Die einen waren offener, andere wollten nichts mit der Nachbarschaft zu tun haben.» Ein Erlebnis aus den Anfangszeiten ist ihm speziell in Erinnerung geblieben: Nach einer Gewitternacht stand am Morgen plötzlich eine Kuhherde mitten in der Siedlung. Die Kühe – sie gehörten dem damals noch existierenden landwirtschaftlichen Versuchsbetrieb auf dem Rossberg – waren während dem Gewitter aus ihrer Weide ausgebrochen. «Die ganze Siedlung war versch….. Und es gelang nur mit Mühe, die Kühe wieder aus der Siedlung zu locken.».

Der Kauf durch die BEP, die Baugenossenschaft des Bundespersonals, hat laut Jürg Züblin für die Siedlung und die Menschen deutliche Veränderungen gebracht: «Vorher hatten die Mieter:innen nichts zu sagen. Die Verwaltung bestimmte alles. Das ist mit der Genossenschaft nun anders geworden. Plötzlich konnten wir mitreden – die Siedlungskommission wurde geschaffen. Gemeinsam wurden die Freiräume neu gestaltet und vor allem neue Spielplätze geschaffen. Eine zentrale Grillstelle wird dazukommen.»

Gleichwohl ist Züblin vor allem für langjährige Mieter:innen eine wichtige Ansprechperson geblieben. «Es herrscht eine viel gemeinschaftlichere Stimmung heute. Man weiss mehr voneinander.» Züblin selber ist nicht mehr der alleinige «Motor» der Siedlung.  Sein Aufgabenbereich ist gewachsen. Neben der Siedlung Neumühle ist er nun auch für weitere Siedlungen der BEP in Effretikon und Wallisellen verantwortlich. «Aber die Neumühle ist natürlich nach wie vor zentraler Teil meines Lebens. Und es ist spannend zu sehen, wie der ursprüngliche Gedanke des gemeinschaftlichen Wohnens nun mehr und mehr Fuss fast.»

Hannes «Jean-Jeanne» Rivar: Verkörperung der Siedlung

Wesentlich mitbeteiligt am Wandel innerhalb der Siedlung ist auch Hans «Jean-Jeanne» Rivar. Er ist es gewohnt, in verschiedenen Welten zu leben und zu agieren: Auf der einen Seite ist er der frühere Koch, Finanzchef und heutige Controller und Unternehmensberater Hannes Rivar; auf der anderen Seite Jean-Jeanne, ehemalige Präsidentin der Siedlungskommission, geoutete transgender Frau, emotionale Promotorin der Siedlung und ihrer Menschen. Anpassung an neue Umstände – das zieht sich bei Jeanne Rivar durch ihr ganzes Leben. Konstant ist ihre emotionale Verbundenheit mit Töss und der Siedlung. Seit elf Jahren lebt sie dort. Die heute 73-Jährige startete in Töss mit der Berufskarriere. «Im Zentrum Töss schloss ich meine Berufslehre als Koch ab. Dies nachdem ich 1968 wegen meiner langen Haare vom Gymnasium geflogen war. Damals war mir nicht klar, dass ich mich eigentlich als Frau fühlte.» Das Restaurant im Zentrum Töss hat Anfang der Siebziger-Jahre einen hervorragenden Ruf. Rivar bildet sich weiter an der Hotelfaschschule in Lausanne, ist im Hotel Atlantis in Zürich zu dessen besten Zeit verantwortlich für Events, später wird er Finanzchef der Steigenberger-Hotels in Davos, bevor er bei verschiedenen Spitälern als Finanzverantwortlicher arbeitet. Rivar verdrängt den geschlechtlichen Zwiespalt, heiratet, bevor sie mit 50 Jahren den Mut findet, sich zu outen. Parallel dazu gründet sie ein Beratungsunternehmen. 2012 kommt sie zurück nach Töss. Mit der Siedlung Neumühle sei es eine Liebe auf den ersten Blick: «Ich wusste sofort, hier bin ich zuhause». Bei der Übernahme der Siedlung durch die BEP meldet Jeanne sich sofort für die Siedlungskommission – und wird auch gleich Präsidentin. Einfach findet sie Zugang zu anderen Bewohner:innen, dem Rocker-Koch, der Frau im Kopftuch, der  «Schweizer» Hausfrau. Sie schafft es, die unterschiedlichen Kulturen zu bündeln, baut zusammen mit der Kommission das Siedlungsleben auf. Nicht zuletzt, weil sie sich selbst ein Leben lang an verschieden Kulturen hatte anpassen müssen. «Der Architekt, der diese Siedlung entworfen hat, hätte einen Architekturpreis verdient», ist sie überzeugt. Nach fünf Jahren gibt sie im Sommer 2023 ihr Amt als Präsidentin ab – engagieren wird sie sich aber weiterhin. Im Gespräch ist es unverkennbar: Jeanne Rivar liebt die Menschen in der Siedlung, und sie liebt die Siedlung.

Bettina Ramseier – die Siedlungspräsidentin

Die Nachfolgerin von «Jean-Jeanne» Rivar als Präsidentin der Siedlungskommission ist Bettina Ramseier, 33, Hausfrau, Mutter von drei Kindern, das jüngste gerade mal einige Wochen alt. Als sie mit Ihrem Partner in Winterthur eine Wohnung sucht, beginnt sie im Osten der Stadt, nahe ihrer Heimat im Thurgau. Nun ist sie faktisch am anderen Ende Winterthurs gelandet – egal: «Die Lage ist einfach super» schwärmt sie. Vor allem die Nähe zur Töss und zum Wald haben es ihr angetan. Bereits seit sieben Jahren lebt sie nun mit ihrer Familie hier. Damit weiss sie auch, wie es vor der Übernahme der Siedlung war. «Alles war zentral geregelt. Die Bewohner:innen verhandelten jeweils alle für sich mit der Verwaltung, wenn sie ein Anliegen hatten. Trotz der vielen Kinder gab es gerade mal eine Schaukel. Es gab generell wenig Gemeinschaftliches.» Sie habe das durchaus als normal und OK erlebt. Als dann die BEP die Siedlung übernahm, meldete sie sich für die neugeschaffene Siedlungskommission. «Und jetzt bin ich die Vorsitzende», sagt sie und scheint noch immer etwas überrascht. Sie schätzt es, dass die Bewohner:innen nun mehr Mitsprache haben. So hat man Spielplätze für die Kinder geschaffen, die auch zu Treffpunkten wurden. «Generell ist inzwischen eine richtige Gemeinschaft in der Siedlung entstanden». Der will sie Gehör verschaffen. «Insbesondere fürchten wir uns vor den Bauarbeiten für den Brüttener Tunnel der SBB. Da ist es uns ein Anliegen, das die Beeinträchtigungen für die Siedlungsbewohner:innen so gering wie möglich gehalten werden.»

Die unbekannte Genossenschaft der Eisenbähnler

In Winterthur ist sie praktisch unbekannt, in Zürich prägt sie vor allem den Kreis 5: die BEP Baugenossenschaft des eidgenössischen Personals ist mit rund 3000 Genossenschafter:innen und rund 1800 Wohnungen in 28 Siedlungen eine der grössten Zürcher Wohnbaugenossenschaften. 1910 gegründet von Lokomotivführern, Weichenwärtern und Stationsbeamten, prägte sie mit ihren Siedlungen das Zürcher Lettenquartier ebenso wie die Gegend um den Röntgenplatz. Heute engagiert sich die BEP baulich nicht nur auf Zürcher Stadtgebiet mit Sanierungen und Ersatzneubauten, sie ist auch in der Agglomeration präsent. Die Siedlung Neumühle in Winterthur Töss ist mit über 130 Wohnungen ihre bis anhin grösste Neuaquisition.