Die vergessene Geschichte des Unterwerks Töss

Die Anlage in ihrer grössten Ausdehnung um 1978. (Foto: ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv)

Strom und Widerstand

Von 1910 bis 1968 versorgte das Unterwerk Töss die gesamte Stadt Winterthur mit Strom – und wurde
so zum Symbol für Fortschritt und Abhängigkeit. Obwohl die Anlage als technologische und architektonische
Meisterleistung galt, fiel sie unglücklich der Abbruchbirne zum Opfer.

Anfang des 20 Jahrhunderts boomt die Elektrizitätsindustrie in der Schweiz. Nachdem 1876 in Littau ein erstes Kraftwerk den Betrieb aufgenommen hatte, löste der Strom zunehmend Heizkraftwerke und Wasserkraft als Energie ab. Zu Beginn waren die Stromkraft
werke isoliert und sehr dezentral gelegen.

Um die Nachfrage zu decken, errichtete die «Motor AG» aus Baden zwischen 1906 und 1908 in Töss ein provisorisches Unterwerk. Dieses verband die Kraft werke Beznau (Aargau) und Löntsch (Glarus) und legte den Grundstein für den ersten Kraftwerksverbund der Schweiz. Die Entwicklung ging rasant weiter: 1910 entstand das erste feste Unterwerk an der Zürcherstrasse 284. Es handelt sich um jene Bauparzelle, wo heute der Jumbo steht.

Unterwerke übernehmen zentrale Aufgaben innerhalb der Stromversorgung. Einerseits verteilt das Unterwerk den über verschiedene Kraftwerke produzierten Strom ins Gesamtnetz, andererseits erfolgt dort die Transformation von Hochspannungsstrom in die von Haushalten und der Industrie benötigten niedrigeren Spannungen.

1914 übernahmen die Kantone Aargau, Glarus, Zürich, Thurgau, Schaffhausen und Zug die beiden Kraftwerke und gründeten die Nordostschweizerischen Kraftwerke AG (NOK).

Töss als Stromdrehscheibe der Nordostschweiz

Mit dem Bau des Kraftwerks Rheinsfelden- Eglisau (1915–1920) wurde die Bedeutung von Töss als zentraler Stromknoten weiter gestärkt. Die Nordostschweizerischen Kraftwerke AG (NOK) investierten massiv und errichteten 1925 das moderne Unterwerk «Töss II» – es war das grösste Unterwerk im Kanton Zürich und zählte zu einer der fortschrittlichsten Anlagen ihrer Zeit. Die beeindruckende Hallenarchitektur aus Eisen und Glas wurde sogar von Max Bill als herausragendes Beispiel moderner Schweizer Baukunst gewürdigt.

Der Starkstrom brachte aber auch neue Risiken mit sich: So kam 1929 ein erst zwanzigjähriger Arbeiter namens Ruppen beim Unterwerk Töss mit der 120 000 Volt Überlandleitung in Berührung und wurde augenblicklich getötet. Neben den Gefahren für Leib und Leben
bestand auch eine hohe Abhängigkeit vom Unterwerk: Bis 1968 wurde die gesamte Region Winterthur durch das Unterwerk Töss versorgt. Die vorausschauende Hallenarchitektur hatte genügend Raum für Erweiterungen gelassen. In den 1960erJahren erreichte die Anlage eine
beeindruckende Gesamtlänge von rund 168 Metern, was ein Vielfaches des ursprünglichen Bauvolumens war.

Blackout in Winterthur – und seine Folgen

Wie riskant die Abhängigkeit von einem einzigen Standort war, zeigte sich 1966: Durch einen technischen Zwischenfall im Unterwerk Töss kam es in Winterthur an einem Dienstagvormittag zwischen 10.00 und 11.00 Uhr zu einem totalen BlackOut: Überallgingen die Lichter aus, alle Elektrobusse erlahmten augenblicklich und verstopften die Strassen, die elektrischen Schreib und Buchungsmaschinen in den Büros
streikten, die Maschinen der Sulzer und Rieter standen stockstill und die «Elektronengehirne» hörten auf zu denken. «Mit einem Schlag kam es Zehntausenden von Winterthurern wieder einmal zum Bewusstsein, wie sehr ihr Leben von einer reibungslos funktionierenden Energieversorgung abhängt», hiess es in der Neuen Zürcher Zeitung vom 12. April 1966.

Dieses Ereignis gab den Anstoss für politische Diskussionen über die Energiesicherheit der Stadt. Die Lösung? Der Anschluss an das internationale Hochspannungsnetz mit dem Bau des Unterwerks «Riet» in Neftenbach. Damit speisten nun zwei Standorte das
Stromnetz der Stadt. Stromausfälle kamen zwar immer noch gelegentlich vor, aber sie betrafen nun «nur» noch einzelne Quartiere.

Vom Meilenstein zum Abrissobjekt

1979 errichtete die NOK für rund 24 Millionen Franken das Unterwerk «Töss III» auf der gegenüberliegenden Autobahnseite. Der Neubau war nötig, weil die alten 150kV Leitungen den stetig wachsenden Strombedarf langfristig nicht mehr decken konnten. Zudem hat
te sich in der Schweiz mittlerweile 220 kV als Norm durchgesetzt. Die grosse Hallenanlage war damit obsolet geworden und diente noch als Lager – unteranderem für die Exponate des damals geplanten Technoramas. Die NOK betrachtete die Anlage schon bald als Abbruchliegenschaft.

Dagegen regte sich aber Widerstand von Seiten der kantonalen Denkmalpflege. Sie veranlasste eine Unterschutzstellung und gab eine Umnutzungsstudie in Auftrag, die dem Gelände eine vielfältige Verwendbarkeit als Dienstleistungs und Gewerbezentrum attestierte. Der Zürcher Regierungsrat – bei dem damals drei von sieben Mitgliedern gleichzeitig im Verwaltungsrat der NOK sassen – lehnte den Antrag
für die Aufnahme ins überkommunale Schutzinventar jedoch ab. Eine Ausstandpflicht für befangene Regierungsräte kannte das Zürcher Verwaltungsordnungsgesetz damals nicht. Für die kantonale Denkmalpflege, den Winterthurer Heimatschutz, den Stadtrat und
mehrere Winterthurer Architekten war der Verlust der NOK-Hallen ein empfindlicher und schwer zu verdauender Rückschlag.

Um wenigstens Teile der Halle zu retten sollte diese abgebaut und im neuen Technorama als «Haus der Energie» wieder aufgebaut werden. Auch diese Pläne verliefen jedoch im Sand. So bleiben nur noch Fotografien der Halle, die der Winterthurer Industriearchäologe Hans-Peter Bärtschi (1950–2022) 1989 noch anfertigen konnte, ehe die NOK sie dem Erdboden gleichmachte. Statt als «Les Halles» von Winterthur aufzuleben, bliebdas Gelände bis 2006 eine Industriebrache, ehe sich der Coop Bau und Hobby dort ansiedelte.

Nadia Pettannice