Radikaler Ausstieg – aber temporär

Am Karfreitag nochmals eine Keller-Bar an der Grenzstrasse, nochmals mit Freun- dinnen und Freunden Würste essen, reden, Bier trinken, und eine Woche später ist die Wohnung leer. Die Möbel sind eingestellt in einer Scheune bei Wiesendangen. Anina und Andreas Schmucki und ihre Kinder Anne-Sophie und Luc sind weg. Bis im September werden Sie auf der «Brunnenmad» im Kanton Obwalden, auf etwas über 1200 Meter eine Alp betreiben. Danach während des Winters durch die Welt reisen, um dann im nächsten Sommer erneut auf der Alp zu sein. Matthias Erzinger hat sich mit den «Aussteigern» unterhalten.

Sie gehen beide gegen die vierzig, sie arbeitet als Lehrerin an der Volksschule in einer Gemeinde zwi-schen Töss- und Glattal, er ist Rettunggssanitäter, hat die «Jungkunst» mitgegründet und während über zehn Jahren stark geprägt. Jetzt ein radikaler Bruch. Sie geben ihre Wohnung auf, lagern die Möbel ein und sind «z’Alp». «Das Projekt für eine gemeinsame Familienzeit ist seit fast zehn Jahren gereift», sagt Anina. «Jetzt ist die Zeit reif, die Umstände stimmen». Eineinhalb Jahre wird sich die Familie auf sich konzentrieren. «Im Sommer 2020 kommt Anina zurück, im September, wenn die zweite Alpsaison vorbei ist, werde auch ich wieder zurück sein», schiebt Andreas nach. Ab Herbst 2019 bis zum zweiten Alpsommer 2020 wird die Familie durch Zentralasien, den Iran, Sri Lanka und China reisen. «Wir werden dann zwar kaum mehr über Ersparnisse verfügen, aber wir sind privilegiert: ich als Lehrerin, Andreas als Rettungssanitäter arbeiten in krisensicheren Berufen. Wir sind sicher, dass wir dann wieder etwas finden.»

Zurück geht ihre Geschichte auf das Frühjahr 2002. Andreas Schmucki, mit Wurzeln in einer österrei- chischen Bauernfamilie, aufgewachsen im Zürcher Oberland und damals Pflegefachmann fährt zusam- men mit einem Kollegen abends im Neigezug aus der Sanitäts-Rekrutenschule im Waadtland Richtung Winterthur. Im Speisewagen kommen sie mit dem Tischnachbarn ins Gespräch. Andreas erzählt, dass er nach der RS eigentlich an der expo.02 arbeiten möchte. Der Tischnachbar ist, wie sich herausstellt, Leiter einer Ausstellung der Uni und der ETH Zürich an dieser expo und kommt gerade von einer Sitzung, an der er erfahren hat, dass er aus Sicherheitsgründen zusätzliche Mitarbeitende einsetzen muss. Der Deal ist schnell fixiert. Wenige Wochen darauf bezieht Andreas einen Schlafplatz in einer alten Villa, in der die «Expo-Guides» der ETH Zürich wohnen können.


Hier an der expo.02 begann die Geschichte…

Anina Lüthi hat damals gerade ihre Primarlehrerin- nen-Ausbildung beendet. Sie kommt aus einer Arztfamilie im Berner Oberland. Auch sie möchte vor dem Wechsel in die starre Struktur eines Berufsalltags bei der expo.02 dabei sein, und hat sich daher bei der ETH Zürich beworben. So treffen sich Arzttochter und Krankenpfleger in Neuchâtel auf der Arteplage; und werden ein Paar. Nach der halbjährigen Expo- Zeit ziehen sie nach Winterthur. «Es war einfach eine ganz unbeschreibliche Zeit», sagt Andreas heute über die expo.02. «Viele, die damals mitgearbeitet haben, waren damals wie wir knapp zwanzig Jahre alt oder etwas darüber. Es gibt eine eigentliche «Generation Expo» in der Schweiz.»

Aichi – Tössfeld – Shanghai

Nach der Expo arbeitet Anina als Primarlehrerin. Das Schulhaus Eichliacker wird zu ihrem Arbeitsplatz. «Es war ein spannender Einstieg in den Beruf, und die Stimmung von Töss war schon damals irgendwie speziell.» Andreas arbeitet teils im Kantonsspital, teils als Freelancer im Eventbereich. «Mich fasziniert es, Leuten Einblick in andere Welten und Gedanken zu vermitteln». Er arbeitet bei Event- und Ausstellungsfirmen, bei Anlässen und Ausstellungen der ETH Zürich und der Uni. Beide wissen: sie wollen das Gefühl, zusammen mit vielen anderen Teil von speziellen Ereignissen zu sein, nochmals erleben. Durch Kontakte, die sie an der Expo geknüpft haben, erhalten Sie 2005 im Schweizer Pavillon an der Weltausstellung im japanischen Aichi einen Job: gemeinsam sind sie verantwortlich für die Gästebetreuung und die Betriebsleitung. Die enge Zusammenarbeit, die grosse Verantwortung, die Arbeit erneut in einem eigenen Mikrokosmos, sie schweissen zusammen. Sie nehmen sich Zeit. Zeit, um in fremde Welten einzutauchen. Ein halbes Jahr dauert ihre Reise nach Japan, ein Jahr die Arbeit dort, ein halbes Jahr die Rückreise. Zurück in der Schweiz arbeitet Anina zuerst in der Reisebranche, Andreas erneut im Eventbereich. Ihre Wohnung ist jetzt an der Agnesstrasse. Andreas startet sein bisher aufwändigstes Projekt: Zusammen mit zwei Kollegen gründet er die «Jungkunst». «Meine Erfahrungen im Ausstellungsbereich waren ein wichtiger Punkt dabei. Bei meiner Familie war Kunst nie ein Thema. Mich hingegen hat Kunst schon als Teenager fasziniert. Ich wollte Kunst für junge Menschen zugänglich machen.»

2008 ziehen sie in das Haus an der Ecke Tössfeldstrasse/Grenzstrasse, gegenüber dem damaligen «Grenzhof». «Auch da waren wir wieder privilegiert: eine für uns perfekte Wohnung, ein gutes Klima mit den anderen Bewohnerinnen und Bewohnern und dem Vermieter», hält Anina fest.

2010 findet wieder eine Weltausstellung statt. Diesmal in Shanghai. Andreas bekommt den Job als stellvertretender Direktor des Schweizer Pavillons. Anina ist zwar in Shanghai mit von der Partie  aber nicht als Mitarbeitende: 2009 ist die Tochter Ann-Sophie geboren und so macht sie, inzwischen wieder Lehrerin, einen verlängerten Mutterschaftsurlaub. «Wir haben an der Expo und später in Aichi gelernt, zusammenzuarbeiten. Nicht ununterbrochen, aber solche gemeinsamen Projekte haben uns gezeigt, dass wir zusammen funktionieren.» «Es tönt etwas clichéhaft, aber ohne die Unterstützung hätte ich den Job in Shanghai nicht geschafft», sagt Andreas. Er ist für den Betrieb zuständig, führt 260 Mitarbeitende. «300 Anlässe haben wir in einem halben Jahr auf die Beine gestellt, Tausenden von Besuchenden die Schweiz vermittelt. Es war auch ein gutes Gefühl, die Schweiz zu repräsentieren und natürlich wieder: die Zusammenarbeit mit vielen anderen mit einem gemeinsamen Ziel, der Austausch mit fremden Kulturen. Das kann man fast nicht in Worte fassen.» «Natürlich waren wir stolz auf die Schweiz – aber wir haben durch unsere Reisen und diese Weltausstellungen auch gesehen, dass es gewisse Dinge gibt, in denen die Schweiz nicht so super ist, dass andere etwas besser machen als wir», fügt Anina an.


Weltausstellung in Shanghai

«Erneut eine neue Welt erleben»

Nach Shanghai beginnt Anina wieder als Lehrerin zu arbeiten, Andreas kehrt in seinen ursprünglichen Beruf zurück, bildet sich weiter. Sohn Luc wird geboren, die Jungkunst wird zum Grossanlass. «Eigentlich wussten wir schon nach Shanghai, dass wir wieder weg wollen, neue Welten erleben», sagt Anina. Zuerst steht die Idee im Vordergrund, dass sie an einer Schweizer Schule eine Stelle sucht, und Andreas als Hausmann wirkt. Bis plötzlich die Idee mit der Alp aufkommt. Freunde der Familie sind einen Sommer auf einer Alp, und nach einem Besuch dort setzt sich die Idee immer stärker in den Köpfen fest. Klar ist den beiden, dass auch das nicht einfach eine «husch-husch»-Aktion sein kann. «Es braucht Zeit, um sich in einem neuen Umfeld soweit zurechtzufinden, dass es auch wirklich erlebbar wird», sagt Anina. Neue Welten erleben kann man nicht nur in einem exotischen Land, sondern auch hier in der Schweiz», sagt Andreas. Und fügt bei: «Ich freue mich schon jetzt, unseren Freunden und unseren Familien diese fremde Welt zeigen zu können, die ganz nahe liegt.» Nach elf Ausgaben ist er bei der Jungkunst ausgestiegen. Jetzt stehen eineinhalb Jahre Familienzeit an.

«Nur wer schlecht plant, braucht Mut»

Inzwischen ist die Familie nun auf der Alp oberhalb Lungern. Ab dem Herbst werden die vier mit Sack und Pack durch die Welt reisen. Zuerst Zentralasien, dann der Wärme folgend in den Iran, von da nach Sri Lanka, wo sie den Winter verbringen wollen, um danach im Frühjahr via China und mit der transsibirischen Eisenbahn zurückzukehren  und zum zweiten Alpsommer wieder da zu sein. «Anne-Sophie wollte unbedingt nach China, weil sie damals als Baby da war, aber nichts mitbekommen hat.»

«Ihr habt aber Mut!», sagen uns viele Bekannte, berichtet Anina, «aber so viel Mut haben wir gar nicht. Natürlich ist der Wechsel radikal. Aber er ist temporär. Sicher wollen wir wieder zurück. Wir wissen, dass wir nach einer Rückkehr vermutlich rasch wieder einen beruflichen Einstieg finden werden. Wenn man gut geplant hat und man die wichtigen Grundlagen im Griff hat, kann man auch mit einer Familie mit Bus und Zug durch die Welt reisen». «Zum Beispiel macht es keinen Sinn, im Winter mit einer Familie in eine kalte Gegend zu reisen», fügt Andreas bei. «Darum werden wir nach dem Alpsommer der Wärme nachreisen. Und: nur wer schlecht plant, braucht Mut.»

Trotzdem: vier Monate auf einer Alp mit Kühen, Rindern und Hühnern? «Wir werden die Kühe nur melken, Käse werden wir nicht produzieren», sagt Andreas, das vereinfache vieles. «Trotzdem ist mir natürlich das Ganze nicht völlig neu. Was er vor vielen Jahren nach der Sekundarschule während einem Jahr auf einem Bauernhof gelernt hat, kommt ihm jetzt zu Gute. Am wichtigsten aber ist das Vertrauen, etwas gemeinsam schaffen zu können.»

Ende April ist der Moment da: die Wohnung und Arbeitsplätze sind geräumt, die letzte «Abschiedsparty» gefeiert. Anina, Andreas, Anne-Sophie und Luc sind dann mal weg.

Matthias Erzinger