Gerhard Kress verlor als Bub fast ein Bein. Später wurde er ein erfolgreicher Elite-Amateur-Radrennfahrer

Mit 78 Jahren fährt er täglich noch 80 bis 120 Kilometer mit dem Velo

Eigentlich habe er ja «mit all dem abgeschlossen», sagt Gerhard Kress zu Beginn des Gesprächs. Dabei meint er wohl eher den Medienrummel während seiner Zeit als Elite-Amateur-Radrennfahrer als den Sport, denn täglich dreht er noch immer im Sommer «seine Runde», so «80 bis 120 Kilometer in vier Stunden». In Italien organisiert er seit Jahren für ein Sporthotel geführte Radtouren und führt die Gäste selber über Passstrassen und Feldwege. Da kämen pro Jahr etwa 16’000 Kilometer auf dem Fahrrad zusammen. Daneben läuft er jeden zweiten Tag mit Walking-Stöcken 13 Kilometer. Den Auenrainstutz läuft er rückwärts runter, «wegen den Gelenken». Ja und an Spinning-Wettkämpfen nehme er manchmal noch teil, wie zum Beispiel in Chur an so einem 24-Stunden-Wettkampf im Zweierteam. Der drahtig schlanke Mann ist 78 Jahre alt!

Mit geliehenem Gewehr und Bajonett ans Rennen

Drei blitzblank geputzte, speziell auf seine eher kurze Körpergrösse angefertigte Fahrräder stehen im Keller des Mehrfamilienblocks in Töss. Weitere Räder stünden bei einer Bekannten in Lindau. Dort ist sein Fahrradsponsor zu Hause, ein Radgeschäft. In dessen Schaufenster steht als Dauerleihgabe sein Schweizer Militärfahrrad – Eingänger, 24 Kilogramm schwer. Mit dem hat Geri Kress so manches Militärradrennen – sie gelten als «die körperlich anspruchsvollsten Wehrsport-Veranstaltungen in der Schweiz» – erfolgreich bestritten. Stolz präsentiert er die vielen Abzeichen und Medaillen. Beim legendären Rennen von Sankt Gallen nach Zürich ist er einst als siebter von 1000 Teilnehmenden über die Ziellinie gefahren; in Uniform, mit Gewehr und Bajonett umgehängt, genau nach Vorschrift. Dabei besass Geri Kress gar kein Gewehr und auch kein Bajonett. Die Waffen musste er für die Rennen jeweils ausleihen. Der gebürtige Stuttgarter hatte sich nach der Heirat mit einer Schweizerin einbürgern lassen. Für die Rekrutenschule war er zu alt, aber nicht für den Wehrdienst. Der gelernte Feinmechaniker wurde als waffenloser Mechaniker den Radfahrern zugeteilt. «Einmal», so Kress, habe er vor einem Rennen das ausgeliehene Bajonett zu Hause vergessen. Am Startort habe er einfach an einem Haus mit einem Schweizer Namen auf dem Briefkasten geläutet und gefragt, ob er eventuell ein Bajonett fürs Rennen ausleihen dürfe. Er durfte! Der Hausbesitzer habe Freude gehabt, dass sein Bajonett an einem Militärradrennen teilnehmen konnte. Kress staunt noch heute über das ihm entgegengebrachte Vertrauen. Für ihn als gebürtigen Deutschen, der zu Beginn des Zweiten Weltkriegs in Stuttgart geboren wurde und dessen Vater lange in russischer Kriegsgefangen­schaft gewesen sei, war diese Geste alles andere als eine Selbstverständlichkeit.

Zum Sport durch eine Rehabilitationsmassnahme

Zum Radsport war er durch einen Unfall gekommen. Als Bub brach er sich beim Schlitteln einen Oberschenkel. Ein komplizierter Bruch. Einige Ärzte hätten das Bein amputieren wollen, doch seine Mutter habe alle Hebel in Bewegung gesetzt, um das Bein zu retten. Erfolgreich. Der kleine Geri nahm sich nach der Genesung die Worte des Arztes zu Herzen: Wenn der Bub je wieder richtig laufen wolle, müsse er das Bein mit Radfahren trainieren. Gesagt, getan.

Irgendwann wurde der Radsportverein Stuttgart-Vaihingen auf ihn aufmerksam und Geri trainierte fortan mit dem RSV. Mit 16 Jahren bestritt er sein erstes Juniorenrennen, einen Rundkurs durch den Wald. Nach fünf Runden pedalte er als fünfter von etwa 70 Teilnehmenden über die Ziellinie. Unmöglich, hätten einige Neider protestiert. Man glaubte, der Neuling habe sich im Wald versteckt und eine Runde ausgelassen. Mit Ausschluss aus dem Verein sei ihm gedroht worden. Doch an den nächsten Rennen belegte er erneut vordere Ränge. «So konnte ich mich etablieren». Fortan holte Geri Kress als Einzelfahrer wie auch im Zweier oder Vierer-Mannschaftsfahren auf der Strasse und auf der Radrennbahn Medaillen, Pokale, Urkunden und andere Preise. Sie füllen heute bei ihm zu Hause ein grosses Regal.

Probleme mit der DDR

Ans Jahr 1959 erinnert sich Geri Kress besonders. Mit seinen RSV-Teamkollegen Horst Sperandio und den Brüdern Heinz und Klaus May waren sie Würtembergische Meister im Bahn-Vierer geworden und wollten an die Deutschen Meisterschaften nach Berlin. Da die Fluggesellschaften der Alliierten, die nach Berlin flogen, keine Fahrräder mitnahmen, entschieden die vier jungen Radrennfahrer, mit Autos nach Berlin zu fahren und dafür 300 Kilometer die DDR zu durchqueren. Das Problem: Horst Sperandio galt als «Republikflüchtling». Der Sportverband von Ostdeutschland hatte zwar eine Garantie abgegeben, dass Sperandio bei der Durchfahrt durch die DDR nichts passiert, doch als sie an der Grenze vor Berlin stehen, wird Sperandio verhaftet und für ein Jahr inhaftiert.

Kress wird wenig später erneut «vom Osten enttäuscht». Es geht um die Teilnahme an der Olympiade in Rom 1960. Die BRD und die DDR können nur eine gemeinsame deutsche Mannschaft an die Olympiade schicken. Kress selektioniert sich mit ein paar Kollegen im Westen und muss nach Leipzig für die Endausmarchung mit den besten Fahrern aus dem Osten. Während des Ausscheidungsrennens stürzt er und verletzt sich. Aus der Traum von Olympia. Und diesen Sturz, so Kress bitter, habe er nicht selber verursacht.

Der Osten wird ihn nochmals einholen: Während sein Einbürgerungsgesuch in der Schweiz läuft, fragt ihn die Fremdenpolizei, warum er eine kommunistisch orientierte Zeitung lese. Kress ist zuerst perplex, erinnert sich dann aber an das in Leipzig produzierte «Sport Echo», das er unaufgefordert zugeschickt bekommt, seit er dort als erfolgreicher Fahrer die Schlagzeilen füllte.

Sportliche Familie

Nachdem Kress über die Landesgrenze hinaus bekannt ist, fragt ihn ein Schweizer Bekannter an, ob er nicht in die Schweiz kommen wolle, um mit den Profis auf der Radrennbahn im Hallenstadion in Zürich zu trainieren. Er sagt zu und fährt an den Rennen meist auf die Podestränge. Vom Gewinn – Bargeld oder Naturalien wie Schlafzimmermöbel, TV-Geräte oder Polstergarnituren, die gleich nach dem Rennen versteigert werden, damit die Fahrer zu Bargeld kommen – lebt er. Doch bald einmal bemüht er sich auch um eine Arbeitsstelle in der Schweiz. Der Firma Pfister-Leuthold wird er 46 Jahre treu bleiben, denn er kann dort flexibel arbeiten und trainieren. In dieser Firma lernt er seine erste Frau kennen; sie bekommen einen Sohn – ein «Riesentalent» im Radsport, sagt der Vater stolz. Gemeinsam bestreiten sie später Rennen, auch Militärradrennen. Neben Arbeit und Training bleibt nicht viel Freizeit. Nach zwanzig Jahren trennt sich das Ehepaar. Gerhard Kress lernt später seine zweite Frau kennen, eine begeisterte Radfahrerin. Er zieht zu ihr nach Töss. Vor einigen Jahren ist er Witwer geworden. Den Sportvirus hat er vererbt. Nicht nur seinem Erstgeborenen. Auch seine Enkelin und sein Enkel sind erfolgreiche Sportler, allerdings in einer anderen Disziplin: im Judo.

Regina Speiser