Töss aus Richtung Süden 2022. Bild: Nadia Pettannice

Als Töss plötzlich im Mittelpunkt alles Bösen stand

Vor 20 Jahren nahm das «Projekt Töss» seinen Anfang. Der Verkehr, die Ausländer, das marode Zentrum und keine Perspektive: Das alles wurde in der Folge wissenschaftlich analysiert, Vorschläge wurden erarbeitet und Studien verfasst. Was ist daraus geworden? Wie lief das damals ab? Und was hat sich seither verändert? Wir blicken aufs Projekt Töss zurück und fragen: Was hats gebracht? Wo steht Töss heute?

Töss galt damals, 2003, als der Winterthurer Problemkreis schlechthin: Rote Milieulämpli leuchteten nicht nur draussen an der Autobahn, sondern man sah sie immer öfter auch in Wohnquartieren. Quer durchs Quartier zog die längste hier bekannte Autoschlange von der A1 ins Stadtzentrum und wieder retour. Schiessereien und andere beunruhigende Schlagzeilen verunsicherten die Bevölkerung. «Die Stadt empfand Töss damals als Katastrophenquartier», erinnert sich Markus Kunz, «dabei gab es durchaus intakte, leben- dige Quartiere und Freiräume. Doch man schaute eher auf das, was schief lief, und weniger auf die durchaus vorhandenen Ressourcen.» Kunz war damals Professor am Institut für nachhaltige Entwicklung an der hiesigen Hochschule, die 2003 noch ZHW hiess.

Überhaupt war Winterthur damals noch eine ganz andere Stadt. Der FCW spielte in der Nationalliga B, der «Landbote» war eine selbstständige rentierende Zeitung, und der Stadtrat regierte noch vom Stadthaus aus. An der Spitze stand Ernst Wohlwend, der erste und bisher einzige linke Stadtpräsident Winterthurs. Wohlwend hatte sich das Thema Stadtentwicklung auf die erste Seite seines Aufgabenhefts geschrieben und setze deshalb das Projekt Töss in Gang. «Das Image von Töss war mies und der Leidensdruck spürbar bei Politikern sowie in der Stadtverwaltung», sagt Kunz.

Politiker:innen und Fachleute

Markus Kunz, damals Professor an der ZHAW, war in der Projektgruppe des Projektes Töss. (Bild zvg)

Es war ein Team mit Fachleuten aus verschiedenen Hochschulen, die sich fanden, um das Projekt Töss zu starten. Neben Markus Kunz gehörten Katharina Prelicz-Huber, Richard Wolff, Hanspeter Hongler und Jonas Fricker zur Leitungsgruppe. Vier der fünf waren damals schon oder wurden später linksgrüne Politiker oder Politikerinnen, im Nationalrat oder im Zürcher Stadtrat. Markus Kunz selber wurde Gemeinderat in Zürich, Fraktionschef der Grünen, und trat dieses Jahr kurz nach seiner Pensionierung auch aus der aktiven Politik zurück. Ist dieses Zusammentreffen von Wissenschaft und Politik Zufall, oder war das Absicht? Weder noch, meint Kunz: «Wir interessierten uns alle fünf für Stadt- entwicklung und für Fragen der sozialen Entwicklung, und genau das trieb uns wohl auch in die Politik.»

Workshops mit Schulkindern

Die Methodik, die das Forschungsteam für dieses Projekt Töss anwandte, war damals teilweise neu und ungewohnt. Um Daten zu sammeln und auch Befindlichkeiten aufzuspüren, führten die Wissenschaftler:innen unter anderem Veranstaltungen mit allerlei Bevöl- kerungskreisen durch; Kunz erinnert sich mit grossem Vergnügen besonders an die Treffen mit all den Schulkindern in Töss: «Die Grossveranstaltungen mit mehreren Schulklassen in der Turnhalle waren wirklich besondere Momente.» Auch ältere Personen, ausländische, jugendliche oder andere so genannte Teilzielgruppen wurden befragt. Im zweiten Teil des Projekts ging es darum, einen Transformationsprozess in Gang zu setzen. «Und wenn man Wirkung erzielen will, muss man Strukturen hinterlassen», weiss Kunz.

Drei Strukturen, die blieben

Drei derartige strukturelle Elemente aus jenen Projektjahren haben seiner Meinung nach in Töss überlebt: Als räumliches Strukturelement der Bahnhof mit dem Güterschuppen als Treffpunkt, die Tösslobby als institutionelles Element, und drittens sei es gelungen, in der Verwaltung bis zu einem gewissen Grad ein Umdenken in Gang zu setzen. Mehr ins Detail gehen mag er nicht, denn als Zürcher kenne er Töss seit jenen Jahren nicht mehr so gut. «Aber ich sehe natürlich auch so, dass der Autoverkehr nach wie vor durch Töss hindurch rollt und dass sich das Zentrum nicht so entwickelt hat, wie man es sich gewünscht hatte.»

Traumhaft: Töss ohne Autos

Eine ganz zentrale Aussage des Schlussberichts war diese, erinnert sich Kunz: Nur eine Tieferlegung der Zürcherstrasse bringt eine wirkliche Verbesserung der Verkehrssituation und des Autolärms und hebt die trennende Wirkung der Strasse auf. Das aber ist, man sieht und spürt es täglich, bis heute nicht realisiert. Auch einige Ideen aus nachfolgenden Studien blieben bloss «schöne Bilder: Die Vorstellung etwa, die Zürcherstrasse werde zu einem urbanen Boulevard , wo unter hohen schattigen Bäumen Busse verkehren, wo Eltern Kinderwagen schieben und daneben Velofahrende auf breiten Radspuren Platz und Sicherheit vorfinden. Autos waren auf diesen Visualisierungen kaum zu sehen: Entweder sollte es sie nicht mehr geben, oder aber sie würden unterirdisch rollen. Utopien, Visionen –  man darf ja mal träumen!

Martin Gmür

Wie haben Sie als Tössemerin oder als Tössemer diese letzten zwanzig Jahre erlebt? Was hat sich seither als Folge des Projekts zum Guten gewandelt? Was ist verbesserungswürdig geblieben? Vielleicht auch: Was hat sich verschlechtert? Und haben Sie Erinnerungen an jene Workshops, die in Töss damals stattfanden? Waren Sie als Schülerin oder Schüler dabei? Als Bewohnerin oder Bewohner? Bitte schreiben Sie uns ihre Erfahrungen oder Erinnerungen an redaktion@toess.ch