Als der «Chrugeler» sich zum gallischen Dorf entwickelte

Anfangs 1980 ging das Abbruchsgespenst in Töss herum! Mehrere alte Häuser im Chrugeler sollten der Abrissbirne zum Opfer fallen. Das ganze Quartier stellte sich geschlossen auf die Hinterbeine und leistete Widerstand – mit Erfolg.

Spielende Kinder auf der J. C. Heerstrasse um 1990. Bild: Matthias Erzinger

In den 1960er-Jahren wuchs der Stadtteil Töss stark an. Immer mehr Arbeiterfamilien zogen nach Töss, um in den nahegelegenen Industriebetrieben Rieter und Sulzer zu arbeiten. Dies führte zu einer regen Bautätigkeit und zunehmender Verdichtung entlang der Zürcherstrasse. Die Stadt beobachtete diese Entwicklung mit Skepsis. Stadtplaner befürchteten, Töss könne sich zu einem sozialen Brennpunkt ohne Zentrum entwickeln. So entstand um 1965 auf dem Reissbrett die Vision von «Töss City». Entwickelt wurde sie von der Rieter AG und der Stadt Winterthur. Ein gänzlich neuer Stadtteil sollte entstehen, mit dem Zentrum Töss als Gemeinschaftszentrum. Es war nicht nur als Shopping-Center konzipiert, sondern von Anfang an als «Community-Mall» mit Dienstleistern wie Post, Apotheke, Bibliothek und einem Mehrzwecksaal für die Bevölkerung. Die Umsetzung sollte in drei Etappen erfolgen: Zuerst das Zentrum, dann viergeschossige Wohnblöcke westlich der Schillerstrasse, zuletzt Einfamilienhäuser im «Chrugeler». Über 260 neue Wohnungen für 700 bis 800 Personen waren vorgesehen. Doch im Gegensatz zu anderen Einkaufszentren jener Zeit wie etwa das Shoppi Tivoli entstand das «Töss City» nicht auf der Grünen Wiese, sondern mitten im historischen Dorfkern von Töss – dem Chrugeler. In diesem hat sich der dörfliche Charakter des einstigen Winzer- und Arbeiterdorfes erhalten. Die schlichten Häuschen sind entweder freistehend oder aneinandergebaut und zeichnen sich durch ihre verwinkelte Position und ihre Schöpfchen, Wiesen und Beerengärtchen aus.

Ein Teil dieses Kerns musste in den 1960er-Jahren dem Zentrum Töss und einer neuen Wohnüberbauung an der Schillerstrasse weichen, darunter befand sich auch ein schönes Geschäftshaus mit Stufendach an der Schillerstrasse 8. Die ersten beiden Bauetappen liessen sich problemlos umsetzen, da das benötigte Bauland fast vollständig im Besitz der Rieter AG war. Die Bautätigkeit rief auch Spekulanten auf den Plan: Die Siska AG kaufte 1965 mehrere Liegenschaften als «Baulandreserve», vermietete sie günstig und investierte nichts mehr in deren Unterhalt. Die Häuser gerieten so bald in einen schlechten Zustand und sollten durch einen Neubau ersetzt werden. 1970 öffnete das neue Zentrum Töss seine Türen. Mit den neuen Wohnüberbauungen an der Schillerstrasse schien die Transformation vorerst abgeschlossen. Die Zürcherstrasse verströmte nun endgültig den Geist der Moderne – die dörflichen Wurzeln konzentrierte sich noch auf die wenigen Strassenzüge entlang des Tösskanals.

Der Chrugeler vom Zentrum Töss aus. Bild: Matthias Erzinger

Ein Quartier leistet Widerstand

Im Januar 1981 wurde publik, dass die Siska AG rund 15 ausländischen Mietern den Vertrag gekündigt hatte. Weitere «– Schweizer –», wie die Neuen Zürcher Nachrichten damals betonten, seien vorgesehen. Sofort ging die Angst um, dass Abbruchpläne dahinterstecken könnten – und genau so war es. Den Gebäuden an der Gätzibrunnenstrasse 21/23 und der J.-C.-Heerstrasse 13 sollte es an den Kragen gehen.

Diese Nachricht rüttelte das gesamte Quartier auf. Denn eigentlich liefen damals im Grossen Gemeinderat Bestrebungen, den Chrugeler in der neuen Bauund Zonenordnung als sogenannte Kernzone zu definieren. Dieses Instrument im Baugesetz dient dem Erhalt des historischen Charakters eines Quartiers, indem Neubauten stilistisch angepasst oder gar nicht erst bewilligt werden. Im Fokus standen bislang vor allem die Aussenwachten – der «Chrugeler» sollte die erste solche Zone auf Stadtgebiet werden. Beunruhigt durch die Nachrichten unterschrieben alle Hausbesitzenden und Mietenden des Chrugelers eine Petition an Stadtrat Peter Arbenz (FDP) und forderten den Stadtrat dazu auf gegen die drohende Zerstörung des alten Dorfkerns vorzugehen und die betroffenen Liegenschaften aufzukaufen, um sie so dauerhaft der Spekulation zu entziehen. Gleichzeitig bildete sich die «IG Chrugeler». Wichtige Unterstützung kam vom Schweizerischen Ingenieur- und Architektenverein (SIA): Mitglieder führten einen Rundgang durch das Quartier durch und wiesen den Chrugeler als schützenswert aus. Mit Stadtbaumeister Karl Keller hatte die «IG Chrugeler» zudem einen wichtigen Fürsprecher im Rücken. Zu jener Zeit oblag es ihm, sich – trotz knapper Mittel – für den Erhalt der historischen Bausubstanz einzusetzen. Eine städtische Denkmalpflege gab es noch nicht. Als Stadtbaumeister stand er damit jedoch oft auf verlorenem Posten. Auch «De Tössemer» wurde in der Folge nicht müde, über den Chrugeler zu berichten. Die Anwohnenden wussten zudem geschickt, die Presse auf ihre Seite zu ziehen – etwa indem sie diese auf den 15. August 1981 zum «Chrugeler-Fest» einluden. Das Fest wurde zur politischen Demonstration. Alle, die sich mit dem Quartier solidarisierten, strömten herbei. Es wurde sogar ein eigener «Chrugeler Song» komponiert:

Mir müend use, sie händ Eus künd
Us rein kommerzeille Gründ
Neui Hüse wellids baue
Oder ächt no meh versaue.
S Fränzi, du und ich,
eus isch das gar nöd glich.

Sie nänneds inwestiere,
ohni das mir söllid argumentiere.
Sie händ halt s Gäld, und Gäld stinkt nöd
Aber eus verchaufe für so blöd.
Mir mached drum Oposition,
das isch der einzig richtig Ton.

Aber nur us ihrem Profitwille
Söllids d’Sehnsücht nöd chöne stille,
dezue händs no e grossi Röhre,
doch das söll eus nöd störe,
mir mached heftig Opposition,
das isch meh als bloss en Hohn

Bauprofile als Drohkulisse

Auch auf politischem Weg wurde interveniert. Doch die Motion der SP-Gemeinderäte Ernst Wohlwend und Walter Baumann zum Kauf der drei bedrohten Liegenschaften wurde von bürgerlicher Seite deutlich abgelehnt. Die IG Chrugeler warf Peter Arbenz bald vor, die Interessen der Siska zu vertreten statt neutral zu agieren. Die Stimmung war angespannt – und wurde noch schlechter, als 1982 bekannt wurde, dass auch die Rieter AG Neubaupläne im Chrugeler verfolgte.

Woher kommt der Name «Chrugeler»?

Vielfach wird der Name «Chrugeler» mit den kleinen, teilweise zusammengedrückten, «verchrugelete» Häusern in Verbindung gebracht. Allerdings ist diese Annahme falsch. Die Siedlung entstand im 13. Jahrhundert. Bis dahin gab es entlang der heutigen Zürcherstrasse ein Häuserzeile, die Leute die dort wohnten wurden «die Leute an der Strasse zur Töss» genannt. Die Siedlung erweiterte sich Richtung der heutigen Töss», welche damals jedoch «Krug» genannt wurde. Und so wurde die kleine Siedlung «Krugeluntal» genannt, was dann im Laufe der Zeit zu «Chrugeler» wurde.

Überall im Quartier schossen Bauprofile aus dem Boden. An der Einmündung der Schaubergstrasse in die J.-C.-Heerstrasse lag ein Trümmerfeld – ein Mahnmal, von Anwohnenden symbolisch als solches erklärt. Nur die Hausbesitzenden konnten sich noch wehren. Deshalb gründete die IG Chrugeler eine Genossenschaft zur Rettung des Quartiers.

Der Chrugeler lebt!

1982 reichte die SP-Fraktion erneut eine Interpellation zu den «Vorkehrungen zur Erhaltung des Chrugelers» ein. Zwar war der Chrugeler im neuen kommunalen Gestaltungsplan tatsächlich als Kernzone definiert – doch deren genaue räumliche und inhaltliche Definition blieb unklar.

Diesmal führte der politische Weg zu einem Teilerfolg: Die Siska AG lenkte ein und sistierte ihr Bauvorhaben. Später verkaufte sie ihre Liegenschaften an Private. Dank dem Widerstand der Quartierbewohnenden wurde kein einziges Haus abgerissen. Stattdessen wurden die kleinen, verwinkelten Häuschen – einst bewohnt von Bauern- und Handwerksfamilien – nach und nach sanft renoviert. Viele junge Familien zogen ein. Der Chrugeler, lange in ruinösem Zustand, füllte sich wieder mit Leben. Heute ist er ein ruhiges, idyllisches Quartier – mit dem Tösskanal gleich um die Ecke als Erholungsraum. Der Chrugeler ist aber auch ein Symbol: für den Erfolg denkmalpflegerischer Initiativen, die nicht von oben verordnet, sondern von unten angestossen wurden. Und zum ersten Mal in Winterthur betrafen sie nicht nur ein einzelnes Objekt – sondern ein ganzes Quartier.

Nadia Pettannice

Verena und Ruedi Tobler blicken zurück

Ruedi und Verena Tobler gehörten vor bald 50 Jahren zu dem Kreis von Chrugeler-Bewohnenden, die sich dafür einsetzten, dass dieses Tössemer Bijou erhalten blieb. Die beiden mit Jahrgang 1947 wohnen heute im Tessin, sind aber oft bei ihren Söhnen in Töss zu Gast. Wir haben sie im Garten ihres einstigen Wohnhauses zum Gespräch getroffen. Hinter dem 1970 eröffneten Zentrum Töss sollte in den Jahren darauf ein neues Wohnquartier entstehen – so planten es die Stadt und die grossen Grundbesitzer, vorab Rieter und Siska. Sie erachteten die alten Bauernhäuser als unmodern und wenig ertragreich. Der Abriss im grossen Stil drohte und dann eine Bebauung mit 08/15-Wohnblöcken. Just in jenen Jahren, nämlich 1975, waren Ruedi und Verena Tobler samt ihren Kindern von Effretikon nach Töss gezogen – sie hatten Glück: Ein altes Ehepaar aus dem Chrugeler wollte sein Haus verkaufen und ins Altersheim ziehen. Das Ehepaar Tobler griff zu. Verena Tobler arbeitete damals als Gemeindeschwester, Ruedi beim VPOD in Zürich. «Der Preis war günstig, das Haus aber auch sehr einfach», erzählen sie 50 Jahre später. Heute lebt im heimelig ausgebauten Schopf einer der Söhne, der andere ist häufiger Gast; das Wohnhaus hat die Tochter vermietet. Die Eltern Verena und Ruedi Tobler erinnern sich noch lebhaft an ihre damaligen Nachbarn: an den Gipser Wehinger, den Gärtner Knechtle oder an Frau Schmidli, die aus der Fuhrhalterei kam. Auch Junge und Saisonniers wohnten zur Miete in den günstigen Häusern, die nicht viel Komfort boten, aber umso mehr Charme. Viele dieser Bewohnenden machten sofort mit, als Toblers begannen, unter dem Namen IG Chrugeler Unterschriften zu sammeln mit dem Ziel, das charmante Quartierchen zu erhalten. (siehe Hauptbeitrag). Im August 1981 fand das erste «ChrugelerFest als eigentliche Protestaktion statt (sieh oben). 1984 schliesslich war klar: die Bauprojekte waren verhindert, der Chrugler würde weiterleben. In der Folge wurde viele der Häuser an ihre Bewohnenden verkauft. Dazu Ruedi Tobler: «Die grossen beiden Liegenschafts-Besitzerinnen Rieter und Siska verkauften ihre Häuser damals fair zu kulanten Preisen.» Die neuen Eigentümerinnen und Eigentümer machten sich dran, viele der Häuser zu renovieren, damit sie gängigen Ansprüchen entsprachen. Sogar Ausbauten waren damals möglich, vorausgesetzt, man sah von der Strasse her nicht allzu viel davon. «Heute ist das viel schwieriger geworden», findet Verena Tobler. «Vieles, was damals erlaubt wurde, wäre heute nicht mehr möglich. Die Vorschriften sind heute viel rigoroser als damals.»