Tössemer Kinder zwischen Schule und Arbeit

Hier die Antwort zu den Kindern die «bei bösem weg» öfters daheim blieben. (Foto: Zürcher Staatsarchiv)

Zürcher Schulumfrage von 1771 in Töss – Teil 1

Tössemer Kinder zwischen Schule und Arbeit

Die Schülerinnen und Schüler in Töss im Jahr 1771 sind zwischen Arbeit und Schule hin- und hergerissen. Das beschäftigt den Pfarrer sehr. Seine Antworten in einem Fragebogen von damals erzählen uns einiges über den Schulalltag zu jener Zeit.

Es ist erst März und die Schule ist bereits zu Ende! So ging es im 18. Jahrhundert den Schülerinnen und Schülern in Töss sehr oft. Nur ging es danach kaum in die wohlverdienten Ferien oder ins Pfadi, Trainings oder Ferienlager, sondern direkt auf den heimischen Hof. Im landwirtschaftlichen Töss halfen die Kinder in aller Regel mit auf dem elterlichen Betrieb. Die Schule kommt zu dieser Zeit häufig nicht an erster Stelle. Wir sehen uns in einer Serie eine ganz bestimmte Umfrage genauer an, welche 1771 gemacht wurde. Damals wurde ein von der «Moralischen Gesellschaft» verfasster Fragebogen an die Pfarrer der Gemeinden im Kanton Zürich verteilt. Die Schulen waren damals nämlich in kirchlicher Obhut. Man er hoffte sich mehr über die Organisation und Art des Unterrichts, die Leistungsfähigkeit der Schulkinder und nicht zuletzt auch mehr über den Schulmeister zu erfahren. Die Antworten des Pfarrers von Töss sind teilweise sehr aufschlussreich.

Manchmal ohne Dättnauer Kinder

Mehr als 100 Kinder aus dem ganzen Dorf Töss gibt der Pfarrer damals an, als er zur Anzahl der Schülerinnen und Schüler gefragt wird. Wobei diese Anzahl variiert «Jee nachdem man etwas Arbeit draußen thun kan.» Die Witterung war es damals auch, die den Kindern aus Dättnau manchmal den Schulunterricht verwehrte: «Die auf dem Hof Tetnau kommen nach Töss, bleiben aber bey schlechtem Wetter und bösem Weg öfters daheim.» Und wenn die Kinder zu viel fehlten, nahm sich der Pfarrer diese «saumseligen Eltern» vor, er ermahnte sie
also, ihre Kinder doch regelmässig in die Schule zu schicken. «Das Zusammenspiel zwischen Gemeinde, Schulmeister und Pfarrer scheint in Töss gut funktioniert zu haben. Das war zu dieser Zeit nicht selbstverständlich», meint Andrea De Vincenti, Expertin für Schulgeschichte an der PädagogischenHochschule Zürich.

Wieso eine Schulumfrage 1771?

1771 gibt es im Raum Zürich einige aufklärerische Gesellschaften, welche gesellschaftliche Verbesserungen anstreben. Die «Moralische Gesellschaft» sorgt sich um den moralischen Zustand der Bevölkerung. Zeitgleich gibt es unabhängig davon eine angeregte Diskussion über eine Schulreform. Vor allem aufklärerisch denkende Pfarrer aus dem Zürcher Oberland forcieren diese Idee. So unterschiedlich die Anliegen beider Bewegungen sind, finden sie irgend wann zueinander. Es entsteht ein Fragebogen über den Schulunterricht in der Zürcher Landschaft. Dieser wird via Dekane bzw. Kapitel an die Pfarrer aller Kirchgemeinden verschickt.

Schule als Statussymbol und doch auch im Sommer

Dass viele Tössemer Kinder im Winter zur Schule gingen, hatte – wie bereits erwähnt – existenzielle Gründe. Die Winterschule begann im November und zwar «von Martini bis miten des Merzens.» Also vom 11. November bis zum März. Doch letztendlich setzte sich der Schulunterricht auch im Sommer durch. Pfarrer und Schulmeister war nämlich aufgefallen, dass die Schulkinder sehr vieles wieder vergessen hatten bis zum nächsten 11. November. Auch wenn in diesem konkreten Fall keine genaueren Angaben zu Töss gemacht werden, es wird auch in diesem Fall keine Ausnahme gewesen sein, dass im Sommer weit weniger Kinder den Weg in die Schule fanden, als zur Winterzeit. Der befragte Pfarrer in Töss scheint sich hier mehr Kontrolle und gesetzliche Vorgaben zu wünschen. Die Eltern seien zu genügsam mit der Schulleistung ihrer Kinder: «da aber einiche elteren denoch gar zu leicht glauben, daß sie es gnugsam er
lehrnet». Andrea De Vincenti sagt, es sei keinesfalls klar gewesen, wann ein Kind mit der Schule beginnt und zu welchem Zeitpunkt es diese beendet: «Es ging dann vielfach darum, ob sie sich das verlangte Wissen und Können angeeignet haben. Also vor allem lesen, und Psalmen aufsagen, manchmal auch schreiben und rechnen.»

Lehrmittel aus der Zeit der Zürcher Schulumfrage. (Fotos: Forschungsbibliothek PHZH)

Jung waren die Kinder teilweise an ihrem ersten Schultag. Einige waren zum Schulstart gerade mal drei Jahre alt. «Und sobald man sie in der Arbeitswelt brauchen konnte, sind sie dann wieder nicht mehr zur Schule gegangen. Dadurch entstanden bei den Jungen und Mädchen aber Wissenslücken, welche man versuchte, durch Nacht oder Repetierschulen zu schliessen.»

Die Nachtschule

«Ja, das ist tatsächlich ein grosses Dilemma», sagt De Vincenti. Familien mussten aktiv auf eine Arbeitskraft verzichten, wenn ein älteres Kind weiter zur Schule ging. «So konnte der Schulbesuch eines Kindes zu einem Statussymbol werden, das man sich je nachdem leisten konnte.» Doch für jene, die bereit seiner Arbeit nachgingen, gab es abends noch eine weitere Möglichkeit, das Gelernte weiter zu üben
und nicht zu vergessen. Eine sogenannte Nachtschule gab es auch in Töss und anders als es ihr Name vermuten lässt, dauerte Sie nicht die ganze Nacht, sondern füllte gerade mal den frühen Abend. Allerdings waren das keine Vertiefungskurse oder neue, weiterführende Lektionen, «da ging es eher um den Kirchengesang und das Lesen und Singen von Psalmen, damit die jungen Menschen am Sonntag die
Predigt gut unterstützen konnten». Wo der Schulunterricht in Töss stattfand, was Schülerinnen und Schüler 1771 in der Schule damals
gelernt haben und was der Tössemer Schulmeister verdiente (soviel vorweg, er hatte auch noch einen anderen Job), lesen sie in der nächsten Ausgabe.

Interview mit Marin Seeger, Primarschullehrer im Schulhaus Eichliacker

Schule in Töss heute

Schule war damals ein Privileg und nicht selbstverständlich. Wie nimmst du das heute war? Gibt es immer noch Privilegien, wenn auch nicht mehr genau so wie damals?

Seeger: Schule oder Unterricht selbst würde ich heute in der Schweiz nicht als Privileg betrachten. 1874 wurde in der Schweiz die allgemeine Schulpflicht eingeführt und in der Bundesverfassung verankert. Seither hat sich natürlich einiges getan und auch verändert. Die obligatorische Unterrichtsszeit (Anzahl Schuljahre) ist beispielsweise seither gewachsen, Lehrpläne wurden angepasst usw. Schule an sich ist also selbstverständlich. Priviliegien gibt’s für einige trotzdem noch immer: Grosse schulische Unterstützung zu Hause, bezahlter Nachhilfeunterricht, bezahlte Gymi Vorbereitungskurse, Besuch einer Privatschule, oder gar HomeSchooling – Das sind alles Dinge, die sich nicht alle leisten können. Ich schätze allerdings das Grundangebot an der öffentlichen Schule als ziemlich stark und umfassend ein.

Schulwege konnten schon mal zum Fehlen im Unterricht führen (vgl. Text Kinder vom Dättnau). Ist das heute noch ein Thema oder kommt dir hierzu was in den Sinn?

Seeger: In der Stadt Winterthur sind die Schulwege vergleichsweise kurz. Bei uns im Schulhaus Eichliacker sollte der Schulweg die Schüler*innen normalerweise nicht vom Unterricht abhalten. Als Ausrede muss der Weg aber noch immer herhalten. Gerade gestern hat mich ein Schüler nach dem Unterricht vorbildlich darüber informiert, dass er diese Woche öfters zu spät zum Unter richt erscheinen werde, da seine Fahrradkette am Wochenende gerissen sei. Sein Schulweg beträgt ungefähr 500m.

Offenbar wurde viel gesungen, vor allem in den Nachtschulen. Wie wichtig ist Musik in deinem Schulalltag?

Seeger: Für mich spielt die Musik in der Schule immer noch eine wichtige Rolle. Das Singen und Musizieren mit den Schüler*innen macht mir selber grossen Spass und den allermeisten Lernenden auch. Da hilft sicherlich auch, dass wir in der «Tagesschule» musizieren und eine weltlichere Liederauswahl treffen dürfen. Leider fehlt mir im normalen Schulalltag manchmal ein bisschen die Zeit dafür. Die zwei Musiklektionen pro Woche kosten wir aber aus! Wir haben im Schulhaus Eichliacker auch Schulanlässe, bei denen wir als ganzes Schulhaus zusammen singen, z. B. nach den Sommerferien beim Schulstart, am musischen Morgen, bei der Einweihung der Adventsfenster oder auch bei der Verabschiedung der sechsten Klassen vor den Sommerferien. Ich erlebe das gemeinsame Singen immer als sehr freudig und verbindend.

Simon Berginz